Alvarès, der während der ganzen Zeit, in der Mlle Aglaé gesungen hatte, neben dem Klavier
gestanden und ihr einmal ihren Ring, ein andermal ein Heft mit Noten aufgehoben hatte, sagte am Abend beim
Schlafengehen zu seinem Kameraden Mendès:
– Du warst nicht wie ich in ihrer Nähe, du hast nicht ihre Augen gesehen. Als sie sang: Amor! Vieni! oh! da spürte ich, wie ihre langen gekräuselten Haare die Luft um sie
herum zum Erzittern brachten, eine heisse, von Wohlgerüchen erfüllte Luft. Wie diese Frau einen
lieben könnte! und wie sie singt!
Mendès antwortete ihm:
– Oh! was für einen schönen Busen Mme Dubois hat! Was für ein Busen! hast du nicht
beim Dessert bemerkt, wie sich, wenn sie sprach, ihr Busen hob und senkte? Als wir uns zum Spieltisch
begaben, ging sie so nahe an mir vorbei, dass ich auf meiner Wange eine liebliche Wärme verspürt
habe... Der Geliebte dieser Frau zu sein, o mein Gott!
Und Henry? Als er zurück in seinem Zimmer war, zog er sich langsam aus, träumerisch, ohne zu wissen
warum, und mit einem Lächeln in seiner Seele. Auf dem Kamin fand er einen Schlüssel, es war der von
Mme Renaud, den sie vorher in Händen gehalten und dann, wie der Zufall wollte, vergessen hatte, und er
erinnerte sich an ihre ungezwungene Haltung und die Sanftheit ihres Gesichts. Als er sich hinlegen wollte, blieb er
am Rand des Bettes stehen; man konnte meinen, dass sich schon jemand darauf niedergelassen hat. Es war sie
gewesen, die sich darauf gestützt hatte, um das Porträt Louises zu betrachten; die Laken waren an
einer Seite etwas weggezogen, die Fussdecke etwas unordentlich... Er stieg vorsichtig hinein, furchtsam, mit
einem Schauder, wobei er mechanisch einem einzigartigen Instinkt gehorchte, an dieser Unordnung nichts zu
verändern.
Tausend angenehme Dinge bewegten ihn im Halbschlaf, und nachts träumte er, mit ihr auf einer breiten
Lindenallee zu wandeln, dass sie sich mit den Armen eingehakt hatten und dass sein Herz zersprang.
Alvarès träumte von den langen Haaren bleicher Frauen, die seinen ganzen Körper umfingen.
Mendès träumte ebenfalls... er träumte, auf den nackten Brüsten einer Chinesin zu
sterben.
Achtes Kapitel JULES AN HENRY
"Es sind jetzt zwei Wochen vergangen, dass ich keinen Brief von dir bekommen habe; wie geht es dir? was treibst
du, lieber Henry? warum diese lange Pause? Es gab eine Zeit, in der es, wenn wir uns einen ganzen Tag lang nicht
gesehen haben, ein trauriger Tag war; nun weckt dein Schweigen Erinnerungen in mir! Denkst du noch an mich?
Als du abgefahren bist, als ich die Postkutsche mit dir entschwinden sah, bin ich leer und traurig nach Hause
zurückgekehrt, es war, als wenn eine Hälfte meines Herzens davongegangen wäre; ich habe lange
geweint, und das umso bitterer, da es der erste grosse Schmerz in meinem Leben war. Du bist in Paris, führst
ein anderes Leben, du wirst vielleicht neue Freundschaften schliessen, wirst Leute treffen, du wirst sicherlich
eine Frau finden, die dich liebt, du wirst dich deinerseits in sie verlieben, du wirst glücklich sein und
mich vergessen.