Die erste Éducation Sentimentale


    Geduld! in vier Monaten, zu Pfingsten, kommst du her, und wer weiss, ob ich mich im nächsten Jahr nicht dir anschliessen werde. Somit habe ich noch nicht alle Hoffnung verloren, ich spreche mir Mut zu, um nicht zu sehr zu verzweifeln. Wenn du doch da wärst, du würdest mich unterstützen; ich habe tausend Ängste ohne einen Grund, tausend Anfälle von Traurigkeit ohne ein Motiv, ich habe deswegen mein Drama, von dem ich dir geschrieben hatte: Der Ritter von Calatrava beiseite gelegt. Wenn ich schreiben will, fällt mir kein einziges Wort mehr ein, ich habe seinen Inhalt nicht mehr im Kopf; ich werde die Arbeit daran aber wieder aufnehmen, es wird in weniger als einem Monat fertig sein, ich werde es dir zu Pfingsten, wenn du herkommst, vorlesen.
  Lebwohl, lieber Henry, ich umarme dich.
      Dein Freund           JULES

    P.S. – Schicke mir per Post den Schiller, um den ich dich gebeten hatte, ich brauche ihn für meine Arbeit. Es ist bald Neujahr; erinnerst du dich an unsere Freude am Neujahrstag, an die Geschenke, die wir bekamen, an die schönen in Seidenpapier eingewickelten Bücher... Doch für mich wird von nun an jedes neue Jahr nicht mit einem Festtag beginnen!  Adieu, tausend Grüsse.

    Die gemeinsamen Erinnerungen, die der Brief Jules' beschwor, bewegten seinen Freund doch sehr, sie erreichten ihn in der Tat an einem Tag voller Verdruss, einem dummen Tag im Dezember, rau und trüb, an dem man nicht weggehen konnte, weil das Wetter zu scheusslich war, noch zu Hause lesen konnte, weil es zu dunkel war.
    Er las den Brief noch zweimal und verschlang seine bittere Süsse; auch er dachte an diese seine andere Hälfte, die dort zusammen mit so vielen anderen kostbaren Gefühlen zurückgeblieben war; er dachte mit einer solchen Sanftheit und Zartheit an seine Mutter, an seine Schwester, an das väterliche Heim, an die Mauern des Hauses, so warm und guttuend, stumme Freunde, die euch Schutz bieten, euch heranwachsen sehen; er bemitleidete sich, ihm wurde ganz weich ums Herz angesichts seiner Einsamkeit, und eine Träne lief ihm über die Wange.
    In diesem Augenblick läutete die Glocke der Vordertür, jemand kam eilig die Treppe herauf, der Schlüsel im Türschloss wurde gedreht, er hörte hinter sich Schritte.
  – Verzeihen Sie mir, dass ich hereinkomme, sagte Mme Renaud, indem sie nähertrat, aber ich komme vom Spaziergang zurück, und bei mir gibt es kein Feuer, ich sterbe fast. Was für ein schreckliches Wetter!
    Sie legte ihren Schleier ab, zog ein wenig ihr Kleid zurecht und setzte den Fuss zum Aufwärmen auf einen Feuerbock. Die frische Luft hatte ihr Farbe verliehen, ihre Wangen waren rosig und frisch und ein wenig blau; ihre Augen waren feucht und noch sanfter als gewöhnlich. Sie zog ihre Hände aus dem Muff; sie trug Handschuhe, die bis über die Handwurzeln reichten. Nichts ist hübscher als ein glatter weisser Handschuh, der aus einem grossen, mit Rosen verzierten Muff herausgezogen wird und der ein sehr reizendes und wohlriechendes besticktes Seidentaschentuch hält; es gibt nichts Hübscheres als das, lieber Leser, abgesehen von der Hand selbst, wenn sie schön ist.
    Und Henry vergass bald das Drama vom Ritter von Calatrava ebenso wie seinen Verfasser, und auch das Gymnasium, auch seine Eltern, und dass die Erinnerung an die Stätte seiner Geburt ihn eben noch Tränen hatte vergiessen lassen.