Die erste Éducation Sentimentale


  – Wird man je erfahren, wie diese Geschöpfe in Wahrheit sind, fuhr Morel fort; wenn sie all die Schminke entfernt und das Kattun abgestreift haben, von ihnen bleibt häufig nur eine abgetakelte Alte, gleich einem Hotel garni, aus dem man alle Möbel entfernt hat. Hören Sie, da ist eine Frau, die Sie kennen, die, ich gebe es zu, nicht mehr ganz jung ist, die ich aber über alles lieben würde.
  – Wer? fragte Henry.
  – Sie wohnen bei ihr, antwortete Morel.
  – Mme Renaud? fragte Henry verblüfft.
  – Ja. Was halten Sie davon? Hat sie nicht bewundernswürdige Augen? Haben Sie auf ihre Hände geachtet? Ihnen müssten sie bei Ihrem aristokratischen Geschmack zusagen... Ich glaube, bei Gott! fügte er hinzu, wenn ich Ihr Gesicht sehe, dass sie Ihnen ziemlich gut gefällt.
  Und während er sich in einem Spiegel betrachtete, vor dem er seine Krawatte zurechtrückte, warf er ihm von der Seite einen fragenden, spöttischen, auffordernden Blick zu.
  – Ja, sie ist ganz in Ordnung, antwortete Henry so kühl er konnte.
  – Es entstand eine Pause.
  – Sie brauchen es nicht zu verbergen, setzte Morel das Gespräch fort. In was für einem Verhältnis stehen Sie zu ihr?
    Henry war entwaffnet, die Eitelkeit kochte in ihm hoch, er lächelte geckenhaft, mit einem künstlichen, übertriebenen Lächeln.
  – In einem recht guten, einem recht guten...
  – Der Vater Renaud ist ein umgänglicher Mensch, ein gutmütiger Trottel, ein wahrer Ehemann. Von der Seite haben Sie nichts zu befürchten... Ah! soso, junger Mann setzte er hinzu, Sie gefallen bereits den hübschen Frauen?
  – Henry lächelte diesmal aus vollem Herzen.
  – Aber davon weiss ich nichts.
  – Bah! Geben Sie nicht den Bescheidenen. Wie ist es, wären Sie untröstlich?
  – Was für eine Frage!
  – Nun gut, also Mut! fliegt nach Cythera, schöne Liebe, schiesst den Pfeil ab!

    Morel nahm seinen Hut und begleitete Henry bis zur Rue Mazarine, wobei er weiter von Mme Renaud und ihrem Gatten sprach, der früher ebenfalls sein Lehrer gewesen war; er gab ihm Einzelheiten, erzählte ihm Anekdoten, ermunterte ihn, fest und beherzt zu sein.
    Als sie sich trennten, schüttelte Henry ihm überschwänglich die Hand. Ich kann nicht sagen, was er für ihn empfand, er bewunderte ihn, betete ihn an, doch sein Geist war nicht mit dem seinen, sein Herz nicht mit seinem Herzen in Einklang. Wie er so dahinging, dachte er an Mme Renaud, er sah sie vor sich gehen, wie sie den Kopf wandte und ihm zulächelte; er grübelte lange über die letzten Worte, die er über sie gesagt hatte, und in seinem Bewusstsein stellte er sich die Frage, ob er sie wirklich liebte.