Die erste Éducation Sentimentale

  Zehntes Kapitel

    Seit einiger Zeit war sein Herz unruhig, kränklich und erfüllt von einer Sehnsucht, bei der die Brust sich weitet und der Appetit schrumpft.
    Eine ganz neue Kraft floss ihm mit dem Blut in den Gliedern; noch nie hatte er beim Gehen den Kopf so hoch getragen und die Kniee so geschmeidig und energisch gestreckt. Früher schlief er nachts besser, und morgens, gerade wenn der Tag begann, hatte er nicht wie jetzt diese mit einem süssen Schwindel vermischte Schlaffheit, die man verspürt, wenn man zu lange Blumenduft eingeatmet hat. Er erinnerte sich nicht an seine Träume und er verbrachte den ganzen Tag mit dem Versuch, sich an sie zu erinnern, er hätte alles gegeben, um sie wieder einzufangen, denn er erinnerte sich undeutlich daran, dass es schöne Träume waren. Wenn es auf der Strasse windig war, nahm er seinen Hut ab und liess die frische Brise durch seine Haare fahren, unsichtbare, flüchtige Hände strichen ihm über den Kopf und versetzten ihm einen Schauder.

    Abends in seinem Zimmer öffnete er das Fenster, manchmal öffnete Mme Renaud auch das ihre; er blieb dort lange auf die Ellbogen gestützt, beobachtete das Wandern des Mondes und die vorbeiziehenden Wolken; er hätte gern in den Sternen gewohnt, und dann zog sich etwas in ihm zusammen und er seufzte. Ah! was für ein Seufzer! ein ungeheuer tiefer Seufzer, mit dem er ganz und gar hätte davonfliegen wollen.
    Er arbeitete nicht mehr, alles verdross ihn, und gleichzeitig verlieh ein neu entstehendes Glücksgefühl seiner Seele Flügel und stimmte einen Gesang an wie die Vögel bei Sonnenaufgang.
    " Was habe ich bloss? was habe ich bloss? sagte er zu sich selbst; ist es das, was man Liebe nennt? Liebe ich sie? Ich weiss nicht, was es ist, aber sie verströmt in der Luft Wohlgerüche, das ganze Haus ist von ihrem Parfum erfüllt, wohin ich gehe folgt sie mir, und mir ist so, als ob ich in ihrer Kleidung gefangen bin und ich in allen Falten ihrer Schürze lebe; wie unter einem Zwang werden meine Augen von ihrem enganliegenden glänzenden Haar wie von einem Spiegel angezogen", – er hielt inne, spitzte die Ohren und lauschte dem Geräusch, das sie beim Betreten ihres Zimmers machte. Sie schloss das Fenster, die Vorhänge glitten auf der Stange, daraufhin beugte er sich vor, um zu sehen, ob noch Licht durch die Scheiben fiel.
    " Nein, ihre Lampe ist gelöscht, sie hat sich hingelegt, sie schläft. Wie schläft sie? Sie liegt zweifellos auf dem Rücken, den Mund halb geöffnet, mit dem Körper zur Hälfte aus dem Bett ragend, den rechten Arm unter den Kopf gelegt; sie hat ein weisses Hemd an, ein feines mit Spitzen besetztes Hemd, wie das, welches sie tagsüber unter ihrem Kleid trägt; sie ist ganz warm, von der Wärme ihrer Glieder, sie ist vielleicht halb aufgedeckt, ihre auf dem Kopfkissen ruhende Schulter ist zu sehen, wodurch das Kissen leicht nachgibt und ihren Kopf umfängt."