Die erste Éducation Sentimentale


    Die kostbarsten Augenblicke waren jedoch die, wenn sie sich, nachdem sie jedes menschliche Mitteilungsbedürfnis ausgeschöpft hatten und schwiegen, mit verlangenden Augen ansahen, den Kopf senkten und versunken an all das dachten, das sich nicht aussprechen liess. Wenn sie aus ihrem verträumten Zustand aufwachten, errötete Henry, und Mme Renaud lächelte mit ihrem bezau- berndsten Lächeln und mit einem Augenaufschlag, den Kopf nach hinten und zur Seite gewendet, und mit angeschwollenem Hals wie eine gurrende Taube.
    Es verging kein Sonntag, an dem sie nicht am Nachmittag, beim Einsetzen der Dämmerung, der melancholischsten Zeit des ganzen Tages, ihn in seinem Zimmer aufsuchte; sie fragte ihn nach seiner Familie, die sie gern kennengelernt hätte, nach seiner Mutter, seiner Schwester vor allem, der er ähnlich sah; sie alle lagen ihr am Herzen. Er war ebenfalls gespannt darauf, von ihrem früheren Leben zu erfahren, von ihrer Kindheit und ihren Launen als kleines Mädchen, von ihren Freundinnen im Internat, und bemühte seine Vorstellungskraft, sich all die Tage zu vergegenwärtigen, in denen sie fern von ihm gelebt hatte, und versuchte sie mit seinen eigenen Erinnerungen zu vermischen. Früher ging sie ins Theater, machte gemeinsam mit M.Renaud Besuche oder ging irgendwelche Einkäufe machen: jetzt aber sieht sie ihre Freundin Aglaé nur noch selten; jede Zerstreuung ist ihr ein Greuel, auch nur einen Schritt aus dem Haus zu machen ist ihr lästig. M.Renaud drängt sie häufig vergeblich, an die frische Luft zu gehen und eine Runde zu laufen, doch sie bleibt stur und er geht am Ende, über diesen grundlosen Starrsinn und die plötzlichen Launen dieses flatterhaften Geschlechts maulend, allein los.

    Ihre Laune hat sich tatsächlich sehr verändert. Früher war sie recht traurig, missmutig, nachlässig, ein wenig übellaunig, sie schnauzte ihren Herrn Gemahl an, regte sich manchmal auf, schalt ihn wegen seiner Beinkleider und der blossen Füsse sowie seiner Vorliebe für Roquefort-Käse; jetzt aber ist sie fröhlich und lebhaft, ihre Augen glänzen, sie seufzt nicht mehr, sie läuft die Treppe hoch, sie singt, wenn sie nähend am Fenster sitzt, man hört ihre Triller und die sich überschlagende Stimme im ganzen Haus widerhallen. Man hätte meinen können, sie sei verjüngt, sie ist fünfzehn, ihr Gatte betet sie an, sie ist so nett, so sanft! Sie lässt ihn alles machen, er ist der Herr, er kann das Essen bestellen oder nichts anordnen, wenn es ihm gefällt, kaum dass sie etwas merkt. Bei Tisch kann er alles sagen, ohne dass ihm widersprochen wird; er wählt seine Westen selbst aus, er geht in der Stadt essen, er könnte es sogar wagen, ausser Haus zu schlafen; noch nie war er in seiner Ehe so glücklich.
    Doch im Gegenzug lacht Henry nicht mehr mit M.Renaud, er unterhält sich nicht mehr mit M.Alvarès und mit M.Mendès, die ihn nicht mehr in ihre Liebes- affären einweihen, er schreibt weder an seine Eltern noch an Jules, Morel geht ihm auf die Nerven, und doch geht er ihn häufig besuchen, getrieben von einem Bedürfnis, ihm ein wenig von dem mitzuteilen, was in seinem Herzen vor sich geht. Morel spottete über ihn, er ermunterte ihn manchmal auch, doch fast immer irritierte er ihn.