Von all den Menschen, die in M.Renauds Haus wohnten, bekam niemand etwas von dem mit, was Henry und Mme Renaud
für einander empfanden; kaum dass sie es sich, wie ich glaube, selbst eingestanden. Glücklich wie sie
waren, lebten sie in der Fülle ihrer Empfindungen, genossen es, sich zu lieben, in der Hoffnung, sich noch
mehr zu lieben, indem sie in diesem Wohlgefühl wie auf einem bequemen Weg voranschritten, umgeben von
göttlicher Klarheit, umweht von warmen Lüften, ruhig und trunken, ja fast wie im Schlaf.
Auch Alvarès liebte Mlle Aglaé mehr und mehr; er hatte aus den keepsakes eine
Anzahl von Stücken herausgesucht, Verse über fallende Blätter, über einen Kuss, über
Träumereien, über Haare, und er schrieb sie in ein schönes neues Album. Mendès hatte sich
zweimal mit Mme Dubois getroffen, ihr Busen brachte ihn ganz durcheinander, er begann, Flöte zu spielen.
Allein Shahutsnischbach war nicht verliebt, er brütete ununterbrochen über der Mathematik, die
Mathematik verschlang sein Leben, von dem er nichts verstand. Noch nie hatte M.Renaud einen fleissigeren jungen
Mann gehabt... und einen einfältigeren; Mendès hielt ihn für einen Tolpatsch.
All diese Menschen liebten. Sie lebten gemeinsam unter demselben Dach und waren doch isoliert, sie verbargen
ihre Gefühle, sie verfolgten ihre Absichten, ihre Einbildungen, jeder mit einer Art von Liebe und mit
Vorstellungen, die sich von den seinen unterschieden. Es ist nicht so wie bei den Schafen: wenn ihr sie an den
Abhängen der Hügel grasen oder in der Herde gedrängt auf einer breiten Strasse ziehen seht,
haben sie nur einen Gedanken, und das ist der an das saftige Gras; was für sie die Liebe ist, das ist der
Bock, der auf sie steigt; was für sie Furcht ist, das ist der Hund, der ihnen in die Kniekehlen beisst,
was für sie Schrecken ist, das ist der rote Mann mit dem grossen Messer, der ihrer Familie den Hals
aufschlitzt. Und die Menschen? wer kann sagen, was sich in all diesen Schädeln unter ihren Hüten
abspielt? und in welche Richtung gehen all die Schritte dieser grossen Herde mit den trüben Blicken?
Eines Abends, Henry war im Arbeitszimmer von M.Renaud – das war in der Woche der Ort, an dem man sich nach
dem Essen traf, – er sass neben ihm; Mme Émilie stickte auf der anderen Seite des Tisches Manschetten,
M.Mendès dachte an Mme Dubois und stocherte im Feuer, M.Renaud las Les Débats,
niemand sprach. Henry zeichnete mit einer Feder auf einem Blatt Papier vornehme Herren.
– Zeigen Sie mir doch Ihre Handschrift, sagte Mme Renaud zu ihm, indem sie näher zu ihm
heranrückte.
Er schob seinen Stuhl ebenfalls näher zu ihr hin, ihre beiden Schenkel berührten sich leicht, ebenso ihre
Arme, sie spürten sich von den Schultern bis zu den Knieen. Henry schrieb seinen Namen, Mme Renaud nahm die
Feder und unterschrieb mit ihrem; ihre Schrift war etwas rundlich und zittrig. Das ganze Blatt war bald voll von
Zitaten und allen möglichen ambitionierten Sprüchen. Henry schrieb auf englisch zwei Verse von Byron,
Mme Émilie auf italienisch einen Vers von Dante. Sie glitt mit der Feder über das Papier und zeichnete
Schraffierungen, wie um eine Zeichnung zu überdecken. Einmal schrieb sie in kleinen Buchstaben "m'ama", was
sie sogleich wieder unkenntlich machte; Henry schrieb seinerseits das Wort "Glück" und löschte es
sogleich mit einem dicken Tintenstrich.