"Sie kommt nicht, sagte er sich, jetzt höre ich schon ein Jahrhundert lang das Schlagen der Uhr, die
Viertel-, die halben Stunden, warte ich noch zehn Minuten", und die zehn Minuten vergingen: "Noch eine Viertelstunde,
denn sie kann es nicht versäumen"; dann packte ihn die Wut und er lief davon, wobei er innerlich mit allem
fluchte, was er an Gotteslästerungen und Verwünschungen kannte.
Er fand Mme Renaud längst nach Hause zurückgekehrt und schon in ihrem Hauskleid vor; es hatte den
ganzen Nachmittag stark geregnet, und sie war mit einer Droschke zurückgekehrt.
Man setzte sich zu Tisch, sein Herz fühlte sich an wie in einem Schraubstock, bei jedem Bissen glaubte
er zu ersticken; kaum hatte man sich von der Tafel erhoben, ging er hinauf und schloss sich in seinem Zimmer ein,
warf sich bäuchlings auf sein Bett und weinte hemmungslos.
Elftes Kapitel
Eines Tages, als er, den Kopf zwischen beiden Händen und mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt voll
Bitterkeit über das Unglück seines Schcksals grübelte, trat Mme Émilie ein. Er hob sein
trauriges Gesicht und betrachtete sie mit erstaunter Miene und verweinten Augen.
– Ah! Sie sind es? sagte er zu ihr.
Sie antwortete mit einer sonderbaren Weichheit:
– Sagen Sie, komme ich ungelegen?
Der Strahl des Mondes, der am Grund eines azurblauen Meeres schimmert, konnte nicht lieblicher sein als ihr
Blick, und ihre Stimme war schmeichlerisch wie der Seufzer des Windes über dem Jasmin.
– Ich gehe wieder, fügte sie hinzu.
– Sie! antwortete er, Sie!
Daraufhin, als sie nichts sagte:
– Aber Sie wissen doch, nein, nicht.
Sie trat näher zu ihm heran. Er wandte im Sitzen den Kopf und sah sie von unten nach oben an wie eine
Madonna; sie stand aufrecht, senkte ihren Blick zu ihm und betrachtete ihn mit ihrem Lächeln.
– Sie wissen sehr gut, aber nein, wiederholte er noch einmal mit langen Pausen, Sie wissen sehr wohl,
nein!
Sie hatte einen Schritt gemacht, ihr Atem berührte die Stirn Henrys, er sah, wie ihre Brust sich hob, er
hörte fast ihr Herz schlagen. Langsam – das geschah, ohne dass er darüber nachdachte, mit einer
übernatürlichen Leichtigkeit, die wir aus Träumen kennen – hob er den Arm, streckte ihn aus
und legte ihn um ihre Taille.
– Weshalb? fragte sie.
– Weshalb?
Und er er zog sie sanft an sich.
– Weil ich Sie liebe.
Sie liess es geschehen; den Kopf ihr zugewandt betrachtete er sie zitternd bleich und stammelnd wie im
Fieber.
– Sie lieben mich... Sie lieben mich! sagte sie mit leiser Stimme, leblosen Augen und wie
trunken von den eigenen Worten.
Und sie beugte sich zu ihm herunter, fuhr langsam mit ihren beiden weichen
Händen durch sein Haar und küsste ihn auf die Stirn, geräuschlos, mit geschlossenen Lippen, und
verschloss ihm den Mund. Henry hielt sie in seinen Armen umfangen, sog, den Kopf an ihre Brust gelehnt, den
Duft ihrer Haut ein und fühlte sein Herz dahinschmelzen.