Die erste Éducation Sentimentale


    Unvermittelt richtete sie sich auf und wich von ihm zurück.
  – Grosser Gott! was habe ich getan? was habe ich getan? sagte sie in einem klagenden, verzweifelten Ton.
  Henry sprang auf und gab ihr den Kuss zurück.
  – Liebst du mich? sagte sie, liebst du mich wirklich, Henry? sag es mir... sag es mir noch einmal... schwöre es mir...
  – Und du, erwiderte er, liebst du mich auch? Oh! sag mir, dass du mich auch liebst!
  Und ohne etwas sagen zu können, drückte sie mit ihren schwachen Händen die seinen, dabei ihre Finger mit seinen Fingern verschränkend.
  – Nein... lass mich... ich beschwöre dich... lass mich... rühre mich nicht an... komm mir nicht zu nahe... ich gehe jetzt...
  Sie machte sich von ihm los
  – Ich bitte dich, sieh mich nicht mehr an! dein Blick schmerzt mich... Oh! mein Gott! vielleicht hat man uns gesehen!... wenn jetzt jemand hereinkäme!... deine Vorhänge waren nicht zugezogen! Was wird aus mir!... Lebwohl, lebwohl, lass mich gehen, halte mich nicht zurück...ja, ich komme heute abend wieder, bald, sehr bald... Lebwohl, lebwohl... Ja, ja, ich liebe dich, mein Henry!
  Und von der Tür aus sandte sie ihm tausend Küsse.

    Er verharrte benommen in seiner Freude, genoss den neuen Geschmack dieser Zärtlichkeiten und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Er hatte Angst, sich zu bewegen, Angst, den Kopf zu heben, er zitterte wie erschreckt.
    Nach und nach beruhigte er sich, und das Bewusstsein seines Glücks erwachte in ihm. Zufällig sah er sich im Spiegel, und er fand sich schön, schöner als irgendjemand. Er stand auf, er fühlte sich stark, stark genug, um die Welt nur für sich umzukrempeln. Sie liebte ihn! er liebte sich selbst, er war gross, er war grossartig, er übertraf alle, er vermochte alles, er hätte sich mit den Adlern in die Lüfte erheben, hätte sich vor die Mündung einer Kanone werfen können. Das Universum erschien ihm jetzt in einem glanzvollen Licht, erfüllt von Ruhm und Liebe, und sein eigenes Leben in eine Aureole getaucht wie das Antlitz eines Gottes; das Glück schwebte über ihm und bedeckte ihn völlig, es kam von überall her, durchdrang die Wände, leuchtete taghell; Henry sog es in sich ein wie man die Luft einatmet.

    Man rief ihn zum Essen, und er verliess ungern sein Zimmer; als er hinaus- ging, pries er es wie die Wiege eines Neugeborenen. Bei Tisch ass er nichts, ja, ans Essen dachte er am allerwenigsten! er betrachtete sie mit ruhiger Miene, wobei er sein Gesicht beherrschte und in seinem tiefsten Innern lächelte.
    M.Renaud sprach ihn an, er antwortete nicht; Alvarès bat ihn, ihm das Gemüse herüberzureichen, er liess es auf die Tischdecke fallen; er stiess Mendès an, wurde mürrisch und schweigsam. Es kam daher, weil er fürchtete, einen plötzlichen Freudenausbruch zu haben und er Lust bekäme, zu singen und zu weinen. Gleich beim Dessert machte er sich aus dem Staub; hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie am Abend wiederkäme? M.Renaud war darüber erstaunt.
  – Er wartet nicht einmal mehr, bis wir fertig sind; er wird von Tag zu Tag merkwürdiger. Weisst du, was mit ihm los ist, liebe Frau?
  – Dieser junge Mann hat vielleicht Kummer, antwortete sie mit der grössten Kaltblütigkeit der Welt
  – Kummer! was für einen Kummer? Er hat vor noch nicht langer Zeit Nachrichten von seiner Familie bekommen. Ah, macht er daraus ein Drama, dass er heute abend so ungeniessbar war?
   Und er begann zu lachen, Alvarès und Mendès lachten, Shahutsnischbach verstand nichts.