Die erste Éducation Sentimentale


    Die Liebenden waren der Schreibwut verfallen; obwohl sie Bildung besassen, war es doch ein stilistischer Überschwang. Vielleicht täuschten sie sich selbst und ihre Leidenschaft ist nur Rhetorik, die sie selber ernst nehmen; ein Mensch mit Geschmack kann keine grosse Sache aus all diesen Gefühlsergüssen machen, die unbeholfen von Gewöhnlichem handeln und vor allem den Damen so sehr gefallen. Ich wende mich hier weder an Schüler der Vierten noch an Modistinnen, die George Sand lesen und Advokatengehilfen als Liebhaber haben, sondern an Menschen mit Geist, die selbst darüber geschrieben, davon selbst welche erhalten und viel gesehen haben: die Leidenschaft beschreibt sich ebenso wenig selbst wie ein Gesicht sich porträtiert oder ein Pferd sich die Reitkunst beibringt. Als Saint-Preux und Don Juan auf den Plan traten und nach und nach zu dem idealen Leben geboren wurden, das wir bewundern, dachten die Väter, die sie schufen, nicht an die Augen ihrer Nachbarin, noch hatten sie im Sinn, etwas dafür zu erhalten; und Sie, mein lieber Herr, glauben, weil Ihre Wangen glühen und Ihr Gehirn erschöpft ist, weil Ihre Augäpfel wie Kohlen leuchten und Sie Federkiele auf weissem Papier verschleissen, glauben Sie, bewegend zu sein wie Jean-Jacques und lyrisch wie Byron? Nicht doch, Bürger! Nicht doch, Bürgerin! Das heisst die Kunst beleidigen, das heisst den Spass verderben. Soll euer Mund sich nicht dazu anstacheln, wohlgeformte Sätze zu formulieren, sondern lieber, gute Küsse zu geben! Sollen eure Hände die Feder weglegen, ihr Platz ist woanders. Weg mit euch, Canaillen, verschwindet von hier, Lümmel! Jagt mir die Spassvögel, werft sie aus dem Fenster! Sollen sie zu Philanthropen werden und in ihrem guten, alten, erlesenen Stil über die Gefängnisse schreiben! Daher, angenommen, der Leser ist genauso Geniesser wie wir, verschonen wir ihn mit jeglicher verliebter Korrespondenz, dem unvermeidlichen Übel in einem Buch, die für uns ebenso langweilig ist wie ein Savoyer Kuchen oder eine Pute mit Kastanien.

    Und doch haben sie ihren Reiz, diese kleinen Zettel aus Seidenpapier, die man sich in die Hand gleiten lässt und die man abends unter Strassenlaternen oder im Licht der Geschäfte liest und die man, wenn man nach Hause zurückgekehrt ist, wieder liest und sechs Jahre später mit einer wehmütigen Träne wieder liest. Hier einige Kostproben von denen, die Henry und Mme Renaud sich austauschten:
  "Ich habe letzte Nacht von dir geträumt, ich war glücklich, und du? Er geht bald aus dem Haus, um drei Uhr."
  Mit dem Wort er ist immer ihr Ehemann, der Tyrann, das Übel gemeint, das man meiden muss. Ein Beispiel: Nehmen Sie sich in acht, er überwacht uns; kommen Sie morgen, er passt auf, ich befürchte ein Unglück, er ist misstrauisch, usw.
    Am Abend liess er ihr, als er hinter ihr ging, einen weiteren Zettel zukommen:
"Glücklich? nein, ich bin nicht glücklich, ich liebe Sie zu sehr. Die Sonne schien, warum sind Sie nicht in den Garten herausgekommen? Ja, ich liebe Sie, schreiben wir uns auf diese Weise, wenn wir uns nicht sehen können. Oh! wie dein Brief gestern abend mein Herz Sprünge vollführen liess! ich trage ihn immer bei mir, ich spüre ihn auf meiner Brust wie eine beständige Liebkosung."