Die erste Éducation Sentimentale


    Ein weiterer Brief, auf sehr dünnem Papier geschrieben und zu einer kleinen Kugel zusammengerollt:
  "Lesen Sie dies nur, wenn Sie bei sich allein sind. Bevor ich Sie kannte, war ich wie ein Körper ohne Seele, eine Lyra ohne Saiten. Sie sind wie die Sonne, die alle Lichter entzündet und die Düfte verströmen lässt. Ich bin jetzt glücklich, das Leben ist wunderschön, deine Augen sind so sanft, so schön! du gefällst mir so sehr! deine Lippen sind reizend und so anziehend!"
   Die Antwort:
  "Seit Sie mich mit Ihren Blicken berauscht haben, mein Engel, bin ich ein anderer Mensch; Sie sind wirklich mein Atem des Lebens, der mir Leben eingehaucht hat; bevor ich Sie kannte, war ich ein Etwas, eine Statue, Sie haben mich in den letzten zwei Tagen aufleben lassen, so wie ich die letzten zehn Jahre nicht gelebt habe. Lieben Sie mich wirklich? kann ich mich nach Herzenslust dieser Sicherheit erfreuen? bin ich dir denn für dein Dasein notwendig? Aber sage mir, du Liebesfee, wer hat dich die Worte gelehrt, die so bezaubernd wirken? Wo hast du diese Poesie des Herzens geschöpft, die sich für mich anhört wie ein Gesang des Himmels? Scheint es dir nicht so, dass etwas uns wie zwei Engel, die zu Gott aufsteigen, unaufhörlich antreibt und uns erhebt, strahlend, in eine Unendlichkeit des Glücks?"

    Sie hätten noch Jahrhunderte so fortfahren und Berge von Weynen-Papier verbrauchen können, um sich in diesem Stil zu schreiben. Mme Renaud schien nicht darüber hinaus gehen zu wollen, und Henry wagte es nicht; vielleicht dachten sie beide nicht einmal daran. Sie waren glücklich, sich zu sagen, dass sie es waren, glücklich, sich lange anzusehen, Seite an Seite zu leben, sich heimlich zu lieben, sich zu schreiben, voneinander zu träumen.

    Henry hatte jegliches Studium aufgegeben, das des Code civil und der Institutionen ebenso wie das der Geschichte und der Literatur, er dachte über nichts mehr nach und erstrebte nichts mehr.
    Manchmal jedoch hätte er sich gewünscht, reich zu sein, um auf einem schwarzen Andalusier, der auf dem Pflaster tänzelte wie ein Windspiel, unter ihrem Fenster vorbeizureiten. Sie liebte Blumen; Blumen sind aber leider nur für die Reichen da; nur sie riechen die Rosen und tragen Kamelien; sie kaufen solche, die nach Ambra und nach Vanille duften und am Busen ihrer Mätressen prangen, und am nächsten Tag schenken sie ihnen neue; die kleinen Leute dagegen kennen all das nur aus der Ferne, das, was sie durch die Eisengitter eines öffentlichen Parks oder in einem gläsernen Gewächshaus des Botanischen Gartens sehen. Henry kaufte nun Blumen, Bukette für zehn Francs, Geschenke, die sein Geld aufzehrten; er trug ausgesuchte Kleidung, kämmte sich zwanzigmal am Tag die Haare, liess sie sich kräuseln und entkräuselte sie wieder sorgfältig, um seiner Frisur ein elegantes und nachlässiges Aussehen zu geben; er wusch sich die Zähne mit parfümiertem Wasser, wusch sich Hals und Hände und machte sich, wenn er vermutete, dass sie kommen würde, zurecht, um sie so zu empfangen.