Neben dem Theater gab es eine Lindenallee, die entlang dem Fluss verlief; dorthin kamen an Sommerabenden die
Damen der Gegend, um frische Luft zu atmen, die älteren mit ihrem Mops, die übrigen mit ihren Ehemännern
und ihren Kindern. Obwohl es in dieser Jahreszeit noch nicht warm war, ging Mlle Lucinde hier jeden Abend spazieren,
begleitet von Mme Artémise, die ihre Mutter zu sein schien, denn sie folgte ihr wie ein Schatten oder ein
Vormund überallhin.
Als er einmal dort entlang ging, bemerkte Jules sie; er grüsste sie und setzte seinen Weg fort, ohne den
Kopf zu wenden, um noch einmal nach ihnen zu schauen, so wie man es täglich auf der Strasse tut. Am nächste
Tag ging er um dieselbe Zeit wieder dort entlang; sie waren an derselben Stelle, sassen auf derselben Bank; er ging
schneller als am Abend davor; Mme Artémise sprach ihn mit seinem Namen an und lud ihn ein, sich neben sie
zu setzen.
Sie war eine honigsüsse und schmeichlerische Frau, voller Freundlichkeit den jungen Leuten gegenüber,
und sie sagte gern angenehme Dinge, die einen erröten lassen; sie unterhielt sich mit ihm viel über sein Drama,
sprach von dem Erfolg, den es haben würde, von den Schauspielern, die es aufführen würden, von den
Wirkungen, die es erzielen würde, und man trennte sich höflich mit dem Versprechen, sich am nächsten
Tag und an den darauffolgenden Tagen wieder- zusehen. Jeden Abend fand Jules, wenn er sich unter den Bäumen
näherte, die beiden Frauen vor, die entweder am Flussufer spazierengingen oder aber auf einer Bank sassen und
dem vorbeifliessenden Wasser nachschauten.
Mlle Lucinde sprach wenig, sie blickte gewöhnlich zu Himmel und fragte Jules nach den Namen von Sternen aus;
am häufigsten spielte sie, den Kopf gesenkt, mit dem Fuss im Gras und lächelte nur gelegentlich. Nur
ihretwegen, nur um ihre zum Himmel gerichteten Augen zu betrachten, die Freude zu geniessen, sie zu sehen, ertrug
er das endlose Geschwafel ihrer Begleiterin, ihre unsinnigen Fragen und ihre übertriebenen Komplimente.
Wenn Sie dabei waren, ein geliebtes Buch zu lesen, jedes Wort verschlan- gen, jeden Satz auskosteten und im Kopf
wendeten, so wie man eine köstliche Frucht mit der Zunge umdreht, und Sie in das Denken des Autors eindrangen
und an den Horizonten träumten, die es Ihnen eröffnet, ist es Ihnen zweifellos schon passiert, dass Sie
bei den Klängen einer Orgel der Grausamkeit, die seine Romanze begleiten, beim Knarren einer Tür, die
sich öffnet, um einen ungebe- tenen Gast eintreten zu lassen, vor Schmerz aufspringen. Nun, Jules unterwarf
sich jeden Tag dieser Qual, die noch grausamer war, als er vorhergesehen hatte, nur um im Gesicht dieses jungen
Mädchens die Andeutung eines Lobes abzulesen, das nirgendwo sonst geschrieben war, um sich nach Belieben an
dieser neuartigen Poesie zu laben, die sich ihm bis zum Einatmen durch die Nasenlöcher und in die Falten seiner
Kleidung eröffnete; er wäre zum Freund oder fast zum Liebhaber der Anstandsdame mit den schlechten
Zähnen und der rauen Stimme geworden, der er von Anfang an, seit er sie zum erstenmal sah, eine tiefe
Abneigung entgegenbrachte.
Lucinde sprach ihn in der Tat nichtsdestoweniger an; er las aus der Schönheit dieser Frau etwas Anziehendes
heraus, das ihn immer wiederkommen liess; es gab nichts Sanfteres als ihr Gescht, nichts Einfacheres als ihr Verhalten,
und doch machte ihre ganze Person einen verwirrt; sofort fühlte man, dass man sie anbeten musste, dass man
für sie sterben könnte, und dann auf einen Schlag revoltierte das Herz und man begann sie ohne Grund zu
hassen.