Die erste Éducation Sentimentale


    Er hielt bei jeder Begebenheit, bei jeder Form, bei jedem Lächeln, das ihm in den Sinn kam, inne, bei jedem Wort, bei einer gewissen Falte der Kleidung, und füllte sich damit, bis er vor Übersättigung dazu überging, eine weitere Bitterkeit auszukosten. Er verschloss seine Augen mit seinen beiden Händen und ver- suchte sich Lucinde vorzustellen oder sich den Klang ihrer Stimme ins Gedächt- nis zurückzurufen; er kehrte häufig zu jener Strasse zurück, die er entlang gelaufen war, als er sie verfolgte; er stützte sich wieder auf die Brüstung der Brücke, auf der ihm Todesgedanken gekommen waren, und bemühte sich, die Spur der Gefühle wieder einzufangen, die er gehabt hatte; er hielt an derselben Stelle der Anhöhe an, er fing mit den Ohren dasselbe Geräusch der Blätter ein, die immer noch rauschten; jeden Abend, wenn er aus seinem Büro kam – denn er war dorthin zurückgekehrt und verrichtete wie früher an demselben Pult seine Schreibarbeit – ging er bei den Ulmen vorbei, unter denen sie oft gesessen hatten, jedesmal in der uneingestandenen Hoffnung, sie eines Tages hier wiederzufinden.

    In seiner Umgebung war, abgesehen von ihm, alles so wie früher, Eltern, Bekannte, die Kleidung, die Möbel, alles war das gleiche wie vorher. Die äussere Natur besitzt eine Ironie ohnegleichen: die Himmel bedecken sich nicht mit Wolken, wenn unser Herz überfliesst; die Blumen verströmen ihren Duft in die Luft, auch wenn wir sie mit unseren Klagen erfüllen; die Vögel zwitschern und paaren sich in den Zypressen, unter denen wir unsere zärtlich Geliebten begraben. Also begann er, da er ein unmittelbares Bedürfnis nach Hass und Wut verspürte, die Menschen zu verabscheuen; da er diesen Hass aus tiefer Scham verbarg, lebte er ihn aus Schwäche nicht aus.
    Da die Liebe ihn verschmäht hatte, leugnete er die Liebe; da er wegen der Poesie getäuscht worden war, verzichtete er auf sie und betrachtete sie als eine Lüge. Im Übrigen fand man, dass er vernünftiger geworden sei, und die reiferen Menschen erlebten ihn im Gespräch als weniger aufgeregt; sein Bürochef war sogar von ihm angetan, er erledigte Dinge zusätzlich zu seinen eigentlichen Aufgaben und arbeitete mit Verbissenheit wie um sich zum Vergnügen zu erniedrigen und um über sich selbst zu lachen.

    Manchmal allerdings lehnte er sich unvermittelt zurück und erhob sich mit Schwung aus seiner tiefen Selbsterniedrigung, wobei er seine Kräfte mangels Perspektiven überschätzte.
    Um etwas Vergleichbares mit dem, was sich in seiner Seele abspielte, zu finden, suchte er bei den Dichtern und Romanschriftstellern eine Situation, die der seinen ähnlich wäre, einen Charakter wie den seinen, doch bei allen, die er sah, fehlte, um eine Ähnlichkeit zu schaffen, die Genauigkeit, die die Zeichnung lebendig werden lässt, die Einzelheit, die ihr Farbe gibt, und schliesslich die Besonderheit, um die es ihm ging; er glaubte, dass nichts seinem Schmerz gleichkam, dass andere nicht so sehr litten und nur der seine unendlich gross sei.
    Er las erneut den René und den Werther, diese Bücher, die es einem verleiden zu leben; er las wieder Byron und träumte von der Einsamkeit der grossen Seelen seiner Helden; doch war seine Bewunderung zu sehr von der persönlichen Einfühlung geprägt, die nichts mit der Einstellung des wahren Künstlers, die frei von Interesse ist, gemeinsam hat.