Die erste Éducation Sentimentale


    Er wusste allerdings sehr wohl, dass man sich, um glücklich zu sein, dem Tanz anschliessen musste, einen Beruf, eine Stelle, eine Besessenheit, eine wie auch immer geartete Angewohnheit haben und damit klappern musste, sich der Politik oder dem Melonenanbau widmen, Aquarelle malen, die Sitten reformieren oder sich mit dem Kegelspiel vergnügen musste; doch für all das hatte er kein Herz, und der geringste Versuch, ein positives Leben zu beginnen, bereitete ihm Schwindel, während das mit Nachdenken verbrachte Leben ihn gleichzeitig ermüdete und ihm hohl erschien.
    Eingehüllt in das Leichentuch der Trägheit, unbeweglicher und kälter als die unter dem Schnee schlafenden Murmeltiere blieb er unempfänglich für die Aufmunterungen und die Vernunftgründe Henrys, als dieser aufs Land zurück- kehrte, um hier seine Ferien zu verbringen. Wie sehr er mitleidig lächelte, als er sein jugendliches Feuer, seine Überzeugung, glücklich zu sein, und seine Liebe zu der schönen Pariser Dame sah! Er war allerdings ebenso gewesen! er hatte auch begeistert und erregt von einer Haarlocke oder der Form eines Fingernagels gesprochen; doch wie lange lag das schon zurück! wie er seitdem gewachsen war! Wie sehr seine gegenwärtige Lage, so unerfreulich sie auch sein mochte, der früheren überlegen war! Er hätte daran nichts ändern wollen, denn sein Schmerz, so glaubte er, war kein gewöhnlicher Schmerz, und wenn seine Heftigkeit so erschreckend war, dann deshalb, weil sein Herz ihm ohne Schutzwälle ausgeliefert war.

    Wenn Henry ihm von den intimen Zusammenkünften berichtete, die seine Geliebte ihm gewährte, und ihm von den Vergnügungen in allen Einzelheiten erzählte, dann liess er Henry gewähren und antwortete nur einsilbig; wenn Henry ihm die Briefe vorlas, die sie ihm schickte – denn sie schrieben sich häufig, Henry an die Adresse von Mlle Aglaé und Mme Émilie an die von Jules – tat dieser so, als sei er voller Bewunderung, doch in Wirklichkeit fand er den Stil abscheulich, die Ausschmückungen abgeschmackt und das Französisch recht fragwürdig. Wer weiss, ob er nicht erfreut gewesen wäre, solche Briefe zu erhalten?
    Nichts konnte Henry davon abhalten, von etwas Anderem zu sprechen; Jules kannte im Geiste alle Zimmer des Hauses von M.Renaud, alle Kleider von Mme Renaud, einschliesslich ihrer Jäckchen und Nachthemden. Gern hätte Henry ihn so glücklich gesehen wie er selbst es war. Jules hoffte, dass es ihm eines Tages gelingen würde, für all dies Mitleid zu empfinden.
    Manchmal allerdings fragte er sich, wie es ihm ergangen wäre, wenn Lucinde ihn geliebt hätte, und was für herrliche Briefe er ihr geschrieben hätte, die heissen Worte, die er auf seinen Knieen zu ihr gesagt hätte; Henry hingegen wandte sich nicht zu dem Vergangenen zurück und malte sie sich nicht in einer anderen Farbe aus, denn nur die Unglücklichen üben sich in ihrer Vorstellung darin, solche Umwandlungen vorzunehmen.
    Die Liebe hatte ihn verschönert, seine Stirn schien vergrössert und sein Blick fester, sein gesamter Körper schien kräftiger und gelenkiger geworden zu sein, aus seinen Bewegungen atmete eine heitere Zufriedenheit, er hatte das Aussehen eines Mannes, der geliebt wurde; Jules dagegen kleidete sich auf eine einfältige Art, er trug Gewänder ohne Knöpfe und zu grosse Hüte.