Nach seiner gross angelegten fünfbändigen Flaubert-Studie L'Idiot de la Famille,
in der Sartre das Verhältnis Flauberts zu seinem Vater, Chefarzt einer Klinik, sein Ressentiment den
bürgerlichen Einstellungen gegenüber, die dieser verkörperte, als ein entscheidendes Antriebsmoment,
nach dem Zusammenbruch von Pont-L'Évêcque den Weg als Schriftsteller zu wählen,
diagnostiziert und das Wirken seines Ressentiments in seinem Frühwerk untersucht hat: Wie sieht es allgemein
mit Literatur aus, lässt sich etwas darüber aussagen, wie frei von einem Ressentiment sie im Sartre'schen
Sinn ist? Lassen sich Werke bestimmter Autoren ausmachen, bei deren Lektüre sich ein Gefühl, ein Verdacht
auf ein zugrundeliegendes unterschwelliges Ressentiment einstellt?
Das könnte nur entschieden werden, indem man sich auf die Suche nach Literatur begibt, die das
eine oder das andere vermittelt, im Fall der ersteren wäre es durch ihre Ausstrahlung, ihre
Gelöstheit – Beispiel: Goethes nach dem Italien-Aufenthalt, nachdem er sich mit seiner heimlichen
Abreise allen Verpflichtungen entzogen und von der Frau von Stein losgemacht hatte, und den wirklich
ersten sexuellen Erfahrungen mit seiner Geliebten Faustina entstandenen Römische Elegien;
dagegen seine frühen Gedichte des Sturm und Drang wie das furiose "Bedecke deinen Himmel,
Zeus, mit Wolkendunst...", die doch sehr nach einem Jugend-Ressentiment klingen. Weitere Beispiele, die die
Ressentiment-These zu belegen scheinen, lassen sich mit Leichtigkeit beibringen: Thomas Mann's
Buddenbrooks etwa mit seiner Methode der ironischen Distanzierung, von der Lübecker Kaufmannschaft und
damit auch von seiner eigenen Familie (ursprüng- lich war gemeinsam mit dem Bruder Heinrich eine Geschichte
ihrer Familie geplant, die den Titel Abwärts tragen sollte), oder der Tonio
Kröger, der aus der Erfahrung Falscher Liebe – die zu lieben, die blonde Inge,
der er nichts bedeutet ("nicht ihr Typ") – die ziemlich paradoxe Quintessenz zieht, dass es für ihn
unwichtig ist, von den Inge's (die im Grunde dumm sind?) geliebt zu werden; sein Glück liegt vielmehr darin,
selbst zu lieben – und zu leiden. [Von der Erzählung gibt es, von Th.M. selbst gelesen, eine Tonaufnahme.]
Ich fürchte, ich stosse mit einer solchen sich an Sartres Thesen orientie- renden
Kategorisierung von Literatur auf Unverständnis, erst recht, wenn ich auch noch den Don Quijote
oder Goethes Werther als Belege für die Umwand- lung eines Ressentiments in Kunst anführe.
Am besten fange ich bei Sartre selbst an, denn es liegt nahe, dass seine intensive Beschäftigung mit Flaubert,
vor allem mit seinen frühen Erzählungen und Romanen, Novembre, Mémoires
d'un Fou, La Première Éducation Sentimentale u.a., im Hinblick auf die
Motivationsstruktur des Ressentiments, welche, bis hin zur Madame Bovary, darin zur Wirkung kommt,
sein Nachdenken über sein eigenes Schreiben reflektiert. [Aber ist das nicht ein Schuh, "zu gross
für mich"?]
Welche seiner Werke wären unter diesem Aspekt zu betrachten (wie gesagt, zu gross für mich –
eigentlich –, da meine Kenntnisse der Materie zu oberfläch- lich und bruchstückhaft sind)?
A: die philosophisch-psychologischen, wie L'Imaginaire und L'Être et
le Néant (Das Sein und das Nichts), für mich, meine selektive Kenntnis (be)greifbar wären
einige seiner Kernsätze, wie L'enfer, c'est les autres (Die Hölle, das sind die Anderen),
chacun est le bourreau de l'autre (Jeder ist der Henker des Anderen), oder das, was er über
le regard d'autrui (der Blick des Anderen) ausführt, die eine ziemlich illusionslose Sicht
auf das Zusammenleben widerspiegeln und den Einzelnen als einen dem willkürlichen Handeln des Anderen
Unterworfenen erscheinen lassen. In diesen Aussagen kommt eine fatalistische Grundeinstel- lung zur Welt zum
Ausdruck, die in ihrer totalisierenden Verallgemeinerung doch verdächtig nach einem Ressentiment klingt!