JP Sartres  La Nausée – Der Ekel


    Er hat das Gefühl, dass sein Leben zu Ende geht; seine Vergangenheit, Mon- sieur de Rollebon ist tot, Anny ist nur zurückgekommen, um ihm jede Hoffnung zu rauben. Was bringt es ihm, Bouville zu verlassen und nach Paris zu gehen? er tauscht eine Stadt gegen eine andere ein, und er hat Angst vor Städten. In ihnen läuft alles mechanisch ab, die Bewohner kehren nach ihrem Arbeitstag in ihre Häuser und Gärten zurück. Diese Idioten! Dieselben saturierten Gesichter wird er auch in Paris wiedersehen. Er stellt sich vor, etwas Fürchterliches würde über sie hereinbrechen, Abstrusitäten wie Fetzen von faulem Fleisch auf den Strassen, Kinder, in deren Gesichtern ein drittes Auge hervorbricht, einer, dessen Zunge sich in einen Tausendfüssler verwandelt. In einer Phantasmagorie sieht er einen Wald von Penissen hervorspriessen, an denen Vögel mit ihren Schnäbeln picken, bis Sperma und Blut fliessen. Er aber wird in Lachen ausbrechen: Was habt ihr mit eurer Wissenschaft und eurem Humanismus gemacht?
    An seinem letzten Tag in Bouville möchte er sich noch einmal mit dem Autodidakten treffen. Im Lesesaal entdeckt er ihn und setzt sich etwas entfernt an einen Platz. Der Autodidakt ist zunächst allein; dann kommen zwei Jungen herein, offenbar Schüler, die sich mit einem Lexikon zu beiden Seiten neben ihn setzen. Sie tuscheln miteinander, bis dahin sieht es noch ganz harmlos und unverfänglich aus. Dann aber wird Roquentin Zeuge einer Blossstellung des Autodidakten: offenbar haben die Jungen mit ihm ein Spiel getrieben; sie haben ihn zu Zärtlichkeiten und obszönen Handlungen verleitet, und der Bibliothekar, ein Korse, der auf der Lauer gelegen hatte, hat sie diesmal ertappt und brüllt los. Er ist plötzlich beim Autodidakten und versetzt ihm einen Faustschlag auf die Nase, so dass sie vor Blut trieft. Hier greift Roquentin ein. Er geht um den Tisch herum, hebt den schmächtigen Korsen am Kragen hoch und hätte ihm gern die Nase eingeschlagen. Es genügt ihm zu sehen, dass der andere Angst hat. Er will den Autodidakten zu einer Apotheke bringen, damit er sein blutverschmiertes Gesicht reinigen lassen kann, doch der will nichts davon wissen, und Roquentin lässt ihn gehen.
    Zwei Stunden vor seiner Abreise geht er noch einmal durch den Park. Er denkt an Anny, die vielleicht in diesem Augenblick von ihrem Ägypter umarmt wird. Er ist nicht eifersüchtig, denn er weiss: sie hat sich überlebt, und er hat sich ebenfalls überlebt. Für sie existiert er nicht mehr, Antoine Roquentin existiert für niemanden, er ist etwas Abstraktes. Der Autodidakt hingegen geht durch die Stadt, in der die Leute noch an ihn denken, wie der Korse oder die dicke Dame, die Zeugin des Vorfalls in der Bibliothek war und gehöhnt hatte: "Sowas gehört eingesperrt, diese Schweine."
    Sein Bewusstsein von den letzten Eindrücken, nachdem die Koffer schon aufgegeben sind: friedlich und leer zwischen den Mauern, Bewusstsein des Asphaltpflasters usw... Alles "zum letztenmal." Eine Jazzmelodie kommt ihm in den Sinn: Some of these days. Er geht in sein Stammlokal, um sich von der Wirtin zu verabschieden. Sie stossen miteinander an, er denkt daran zurück, als er mit ihr geschlafen hat. Madeleine, die Kellnerin, legt ihm seine Platte auf; er lauscht den Saxophonklängen und der rauen Stimme der schwarzen Sängerin. Die Platte kratzt etwas, als sie singt: Some of these days you'll miss me, Honey. Roquentins Gedanken schweifen nach New York, wo einem unter einer Hitze- welle stöhnenden schwitzenden Juden diese Melodie eingefallen ist. Der Jude und die Negerin, sind sie durch das Musikstück bzw. durch den Gesang gerecht- fertigt? Ein wenig vielleicht, doch für sich selbst macht er sich nicht viel Hoffnung. Ein Buch: es wäre zunächst eine anstrengende und langweilige Arbeit, vielleicht würde es ihm dazu verhelfen, sich ohne Widerwillen an sein Leben zu erinnern. "An dem Tag, in der Stunde hat alles angefangen." Es gelänge ihm – nur in der Vergangenheit – sich zu akzeptieren.