JP Sartre:  Die Hölle, das sind die Anderen


    Einen breiten Raum nehmen in L'Être et le Néant seine Ausführungen zu einer Mentalität ein, die im Französischen als mauvaise foi bezeichnet wird. Sartre leitet sie aus einer Negation des Bewusstseins ab, wenn es die, wie von ihm postuliert, natürlicherweise eingenommene negative, ablehnende Haltung zur Aussenwelt gegen sich selbst wendet. In einer ersten, vorläufigen Annäherung wird sie von ihm mit mensonge, also "Lüge", "Unwahrheit" – in diesem Zusam- menhang wohl besser: "Leugnung" – gleichgesetzt, im weiteren anhand von ins Einzelne gehenden Erläuterungen als Selbsttäuschung, als Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber charakterisiert. Bemerkenswerter Weise zieht er dann als Beispiel weibliches Verhalten heran: "Voici, par exemple, une femme qui s'est rendue à un premier rendez-vous...": Eine Frau verschliesst sich einem Mann gegenüber, der bei einer Annäherung von Anfang an die Möglichkeit eines sexuellen Kontakts mit einbezieht, diesem Gedanken zunächst, sie zieht ihn nicht in Betracht, da bei ihr, so Sartres Darstellung, kein Auffassen der Situation in letzter Konsequenz vorhanden ist; sie lässt Es erst nach langem auf Unterhaltung beschränktem Geplänkel zu, verschiebt ein Zulassen sexueller Hintergedanken weit nach hinten, auf ganz zuletzt.

    " Das Wesentliche der Leugnung ist, dass sie in der Tat voraussetzt, dass der Leugner vollständig im Besitz der Wahrheit ist, die er enthüllt... Das Ideal des Leugners wäre demnach ein zynisches Bewusstsein, das die Wahrheit an sich bestätigt, sie aber in seinem Reden verneint und gleichzeitig sich selbst gegenüber die Verneinung leugnet. Somit hat diese doppelte Verneinung etwas Transzendentes....".
    Die mit dem Begriff mensonge, "Leugnung" beschriebene Täuschung setzt die Existenz des Anderen voraus, meine Existenz für den Anderen und die Exi- stenz des Anderen für mich – Sartre zitiert hier Heideggers "mit-sein" –; für das Leugnen genügt es, wenn die Absicht vor dem Anderen, der die Unwahrheit für wahr halten soll, völlig im Dunkeln bleibt, was auch das Wesen der Unwahrheit ausmacht, die dem Bewusstsein als von Natur aus im Verborgenen bleibend erscheint. Diesem Ansatz stellt Sartre die Auffassung der Psychoanalyse gegen- über: sie stelle mit dem Konzept der Verdrängung mit der Zensur als einer Art Zollschranke die Unterscheidung zwischen dem Leugner und dem Geleugneten wieder her. " Freud hat mit der Einführung des Es und des Ich das psychische Ganze in zwei Teile aufgespalten. Ich bin ich, aber ich bin nicht Es... Die Psychoanalyse ersetzt das Konzept der Unaufrichtigkeit durch die Vorstellung von einer Leugnung ohne Leugner, sie erlaubt mir, mich nicht als Leugner zu verstehen, sondern als ein Opfer der Leugnung." Sie versetze mich demnach in eine Position als eines Anderen mir selbst gegenüber und führe damit in meine Subjektivität die Intersubjektivität des mit-seins ein.
    Die kritische Einstellung eines Intellektuellen zur Psychoanalyse, dazu eines aus Frankreich, wo sie lange Zeit besonders umstritten war (Freud contra Lacan!), in einem hochgradig intellektuell anspruchsvollen Zusammenhang einer philosophischen Abhandlung: kann man daraus auf eine persönlich motivierte Voreingenommenheit, etwa ein Ressentiment gegen die Autoritäten Freud und/oder Lacan nach dem Schema des Oedipus-Komplexes, schliessen? Nein, auf dieser Schiene bringt es nichts. Andererseits stellt sich die Frage, ob das Sartre'sche Konzept nicht implizit ein moralisches Gebot aufrichtet, nach dem eine Freiheit der Entscheidung, ein Urteil darüber, was richtig und was falsch, wahr oder eine (Selbst-)Täuschung ist, postuliert wird, im Gegensatz zur Psychoanalyse, deren Ansatz es ist, sich mit Verdrängtem urteilsfrei auseinanerzusetzen.