Honoré de Balzac  Glanz und Elend der Kurtisanen

Erstes Buch

Kurtisanenliebe


    Paris im Jahr 1824, ein Opernball. Die feine Pariser Gesellschaft zieht es dort- hin, um dabei gewesen zu sein. In dem Gedränge, die Herren überwiegend ohne, die Damen mit Maske, fällt besonders ein junger Dandy wegen seines blen- denden Aussehens auf; über ihn erfährt man, dass er erst kürzlich durch eine königliche Order seinen Namen, den der mütterlichen Linie, zurückerhalten hat: es ist der als eine zentrale Figur der Illusions Perdues bekannte Lucien de Rubempré. Eine weitere Person kennt man aus Vater Goriot, wie dieser ein ehemaliger Bewohner der Pension der Mme Vauquer: der zu der Zeit noch junge Rastignac. Ein Besucher, in einem ungewöhnlichen Domino-Kostüm und das Gesicht hinter einer Maske verborgen, tritt an ihn heran; er wird von ihm dennoch erkannt: auch er ist ein ehemaliger Pensionär der Mme Vauquer. Er hält sich immer in Luciens Nähe auf und steht offenbar in einer besonderen Beziehung zu ihm; er gibt Rastignac zu verstehen, dass dieser eine besondere Macht, die der Kirche, hinter sich habe, und droht ihm, dass er ihm etwas antun werde, falls er seine Identität verraten sollte. Sie wird erst später enthüllt werden.

    Rastignac stösst zu einer Gruppe von Literaten, Journalisten, einem Zeitungs- verleger, Besitzer eines Blattes, die beieinanderstehen und mit scharfzüngigen Anmerkungen den neuesten Klatsch erörtern und sich darüber auslassen, wie sich die öffentliche Meinung über eine Person beeinflussen lässt, beispielsweise mit "hinterlistigen Artikelchen auf der vierten Seite des Blattes". Es wird eine Verabredung zu einem Souper getroffen, zu dem auch Lucien seine Zusage gibt. Ihm gilt das besondere Interesse der anderen, und als er sich entfernt, um einer Dame entgegenzugehen, beginnen die Spekulationen über seine neueste Erobe- rung, und sie glauben zu wissen, um wen es sich bei der Unbekannten handelt: um eine ehemalige "Ratte", genannt "die Torpille", die er ihnen nun wegnehme, "nachdem er Coralie zur Strecke gebracht" habe.
    Hier muss Balzac erläutern, was es mit dem Begriff "Ratte" auf sich hat, einer Perversität, die in der fraglichen Zeit der Restauration aus der Mode gekommen und damit in Vergessenheit geraten war. Als "Ratte" wurde ein zehn- bis elf- jähriges Mädchen bezeichnet, das Statistin an einem Theater oder an der Oper war und von Wüstlingen zu scheusslichen Lastern – wohl eine Umschreibung für pädophilen Missbrauch – abgerichtet wurde. Erst neuerdings wurde das Thema von einigen Schriftstellern wiederentdeckt.


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