Glanz und Elend der Kurtisanen

    Der vermeintliche Priester entpuppt sich als derselbe unheimliche Maskierte, der beim Opernball ein besonderes Augenmerk auf Lucien gerichtet hatte und der von Rastignac wiedererkannt worden war. In dem nun sich entspinnenden Disput zwischen ihm und der Dirne wird das Verhältnis zwischen den drei Personen, Lucien, Esther und dem ehemaligen Pensionär der Mme Vauquer, deutlich, der jetzt als spanischer Priester mit dem Namen Carlos Herrera auftritt: Lucien ist sein Schützling, mit dem er noch Grosses vorhat; die Rolle Esthers ist es, als die Geliebte im Verborgenen zu bleiben, sie dient nur als ein Mittel zur Erreichung dieses Ziels, als ein Lockvogel in einer im Folgenden von dem Priester sorgfältig eingefädelten Intrige, mit deren Hilfe Lucien ein Vermögen verschafft werden soll und als deren Opfer der tumbe Baron de Nucingen, Bankier und Ehemann einer der Töchter Goriots. vorgesehen ist.

    Esther ist aufgrund ihrer früheren Lebenswandels als Dirne, wie der Vorfall beim Opernball offenbarte, in der Gesellschaft geächtet und steht noch unter polizeilicher Beobachtung; sie hat die Aussicht, ihre bürgerlichen Rechte wieder- zuerlangen, wenn sie bestimmte Auflagen erfüllt. Der Priester nennt die Hinder- nisse, derer sich auch Esther bewusst ist: ihre Mutter ist Jüdin, sie ist daher nicht getauft; doch wünscht sie sich inständig, katholisch zu werden. Der Priester eröffnet ihr, dass sie sich zunächst einer strengen Verwandlung unterziehen muss, durch die sämtliche Spuren in ihrer Erscheinung und ihrem Auftreten, die ihre frühere Lasterhaftigkeit verraten könnten, getilgt werden. Sie wird in dieser Zeit, in der sie ihren Geliebten nicht wiedersehen darf, in einem Internat für aristokratische junge Mädchen im katholischen Glauben erzogen und durch Unterweisung in der katholischen Lehre auf ihre Taufe vorbereitet werden, die der Bischof, der sich mit der Konversion einer Jüdin zu schmücken gedenkt, selbst vornehmen wird. Bei der Eröffnung, dass sie für eine lange Zeit von Lucien getrennt sein wird, bricht sie in Tränen aus, fällt dem Priester zu Füssen und versucht; ihn mit Küssen und Flehen umzustimmen.
    Sie scheint sich in dem Internat, in dem sie durch ihre aussergewöhnliche Schönheit hervorsticht, die diejenige der übrigen Mädchen übertrifft, gut ein- zuleben. Nach den Worten der Oberin "ist sie eine Erbauung für uns". – Hier lässt Balzac sich seitenlang über Schönheit, über Merkmale, die sie ausmachen, aus, allgemein und im Besonderen über solche der jüdische Schönheit, durch die sie sich seiner Meinung nach hervorhebt, wie Gesichtszüge, ein orientalischer Schnitt der Augen und die Fülle der Haare, und stellt daran anknüpfend Betrach- tungen über die Darstellungen weiblicher Gestalten in der Kunst an; so habe Raffael "die jüdische Schönheit am genauesten studiert und am treffendsten dargestellt".
    Esther durchlebt eine Zeit freudiger Erwartung der bevorstehenden Tauf- zeremonie ganz in Weiss, eine "jungfräuliche Seele, die dem Paradies zustrebt", die mit einer neuen Denkweise vieles hinzulernt und anderes verlernt. Doch nach und nach wird an ihr eine Veränderung bemerkt; eine krankhafte Mattigkeit, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehens, sie verfällt körperlich, verträgt die reichliche und gesunde Nahrung nicht, leidet infolge von Schlafmangel an beständiger Übermüdung. Es ist, "als übe ihre höllische Herkunft immer noch ihre Herrschaft über sie aus".