Glanz und Elend der Kurtisanen

    Es vergehen weitere Wochen und Monate, in denen Esther sich gegen ihr Schicksal sträubt, sich Nucingen auf die Kniee setzt, ihm um den Hals fällt und ihn anfleht, für ihn nicht mehr sein zu wollen als eine Tochter, bis er schliesslich erklärt, er wolle vierzig Tage lang nur wie ein Vater für sie sein. So steht der Umzug Esthers von der Rue Taitbout in das kleine Palais weiterhin aus; es muss auch noch mit dem für das Jahr 1830 typischen Luxus eingerichtet werden, Nucingen will schliesslich seine Bankiersfreunde, die du Tillet und die Keller, mit Prunk beeindrucken, wenn er sie zum Einzugsdiner einlädt. In dieser Zeit des Hinhaltens bieten sich zudem weitere Gelegenheiten, mit neuen Forderungen noch mehr Geld aus ihm herauszuholen; die Summe beläuft sich mittlerweile auf annähernd eine halbe Million, sie reicht aber noch nicht aus, damit Lucien die "lange Hopfenstange" Clotilde de Grandlieu heiraten kann. Eine weitere Million hofft Carlos dem Bankier abzupressen, denn "bisher hat er nur den Arm in der Schlinge, wir brauchen seinen Kopf".
    Nucingens Heimlichtuerei mit einer Angebeteten, der er verfallen ist und die niemand kennt, wird mit spöttischen Bemerkungen kommentiert; er ärgert sich über sich selbst, weil er bisher nicht weiter gekommen ist: " 'ne halbe Million aus- zuspucken und noch nich 'n Stück von ihrem Bein zu kennen, is wahrlich blöd". Als ihn wegen seiner Zugeständnisse eine Wut packt, schreibt er ihr, da er das Französische schriftlich besser beherrscht als gesprochen, einen Brief, in dem er von ihr erwartet, dass sie als seine Geliebte in das Palais in der Rue Saint-Georges einzieht. Von dieser Forderung unter Druck gesetzt, antwortet Esther ihm, dieser Tag werde ihr letzter sein. Daraufhin fällt der Baron gar in Ohnmacht, und die verständnisvolle Baronin rät ihm, abzuwarten (Madame de Nucingen hat keine Ahnung von dem Wesen solcher Mädchen). Hier schaltet sich die falsche Trödlerin Asie-Saint-Estève ein, für weitere sechshunderttausend Francs werde Esther ihren Widerstand – für Carlos eine "alberne Ziererei" – aufgeben und "den Pass über den Grossen Sankt Bernhard freigeben".

    Nachdem Carlos eindringlich auf Esther eingeredet hat – er könne Lucien dahin bringen, wo er selbst herkomme, nämlich in den Bagno, wenn sie sich weiterhin sträube –, sie müsse, um die ihm drohende Gefahr abzuwenden, nur für einige Wochen oder Monate wieder zur Torpille werden, gibt sie ganz unver- mittelt nach und sagt zur verblüfften Europe: "Nun kann der Spass beginnen." In einem Brief teilt sie Nucingen mit, dass sie bereit sei.
    Bevor der Umzug in die Rue Saint-Georges in die Wege geleitet wird, stellt sie ihm die Bedingung, dass ihre Bediensteten, die Zofe Eugénie und die asia- tische Köchin, wieder ihre alten, von der Rue Taitbout her vertrauen Namen, Europe und Asie, annehmen. Sie will noch an demselben Abend in die Oper, um sich dort als die offizielle Mätresse des Barons zu zeigen. Besuchern, die sie in der Loge aufsuchen, stellt Nucingen sie als Madame de Champy vor. Der Zufall will es, dass auch die Tänzerinnen und Mätressen Mariette, Tullia und Madame du Val-Noble, Bekannte Esthers aus ihrer Zeit als Torpille, anwesend sind. Letz- tere hat als die ehemalige Geliebte jenes Bankrotteurs Falleix vordem das Palais in der Rue Saint-Georges bewohnt. Nach der Versicherung, "nett zu sein, wenn die Damen auch nett zu ihr sind", lässt Esther sie in ihre Loge kommen. In den folgenden Tagen kommt es dank der Grosszügigkeit Esthers trotz des nun bestehenden gesellschaftlichen Abstandes nicht ganz zufällig zu weiteren Begeg- nungen zwischen der "Frau im Wagen" und der du Val-Noble, der "Frau zu Fuss", wenn diese, als Dame der Gesellschaft gekleidet, auf den Champs-Élysées spazieren geht.