Glanz und Elend der Kurtisanen

    Damit das Leben Esthers – Lucien darf keinesfalls durch sie kompromittiert werden – ganz im Verborgenen bleibt, wird es durch Herrera strengen Regeln unterworfen, die es ganz vor der Aussenwelt abschirmen sollen. Am Tage verlässt sie, angeblich wegen Krankheit, wie man die Nachbarn glauben lässt, die Wohnung nicht. Nur nachts darf sie, allein oder mit Lucien und begleitet von Europe und einem mit einem Stock bewaffneten Diener als Leibwächter, Ausfahrten mit einem Mietwagen unternehmen, zu denen sie gegen zehn Uhr aufbricht, um dann gegen Mitternacht in der reizvollen Umgebung von Paris spazierenzugehen. Dieses Leben gemeinsamen Glücks dauert etwa vier Jahre, in denen Lucien, der in den höheren gesellschaftlichen Kreisen eine Gönnerin, die ihm sehr zugetane Madame de Sérizy, hat und unter dem besonderen Schutz des Grossalmoseniers von Frankreich steht, allmählich einen Ruf als Dichter erwirbt, doch ist seine Stellung keineswegs gefestigt.

    Eines Nachts passiert das, was unbedingt vermieden werden sollte: bei einer Spazierfahrt in den Wald von Vincennes wird Esther entdeckt. Sie ist gerade im Begriff, wieder einzusteigen, als neben der Kutsche die Pferde einer Kalesche, die mit dem eingeschlafenen Kutscher und dem "wie ein Brummkreisel aus Deutschland" schnarchenden Diener auf dem Rücksitz führerlos ist, stehen- bleiben. Der Herr in der Kalesche, aufgeschreckt durch den plötzlichen Halt, sieht hinaus und erblickt die aussergewöhnlich schöne junge Frau, die hastig den Schleier wieder vor das Gesicht zieht. Es ist der Baron de Nucingen, der der Unbekannten augenblicklich verfallen ist und der, als die andere Kutsche eilig davonfährt, dem Kutscher befiehlt, ihr zu folgen, doch es gelingt nicht, sie einzuholen.
    Besessen von der geheimnisvollen Schönen, setzt der Bankier alle Hebel in Bewegung, um herauszufinden, wer sie ist. Zunächst begibt er sich selbst auf die Suche, er durchstreift die Wälder rund um Paris, den Bois de Vincennes, wo er die unbekannte Schöne erblickt hatte, den Bois de Boulogne sowie den Bois de Meudon; nach vierzehn Tagen vergeblicher Suche gibt er es auf und beauftragt einen Detektiv damit, die Frau ausfindig zu machen. Er selbst, sein Alter wird einmal mit sechzig angegeben, verfällt nach und nach, magert ab, er scheint ernsthaft erkrankt zu sein. Ärzte werden hinzugezogen, und einer äussert den Verdacht, dass Liebeskummer die Ursache sein könnte. Seine Umgebung wun- dert sich, er, der sämtliche Arten von Liebe, die mit Geld erlangt werden können, genossen hatte, begeht diesen in der Geschäftswelt unverzeihlichen Fehler, sich wirklich zu verlieben!
    Bei einem Diner in seinem Hause, zu dem Mitglieder der feinen Gesellschaft von Rang und Namen geladen sind, aber auch Rastignac, der Liebhaber der Baronin de Nucingen, Delphine, eine der beiden Töchter Goriots, sowie Lucien, wird über dessen unsichere Lage spekuliert, er soll hohe Schulden haben, der beste Ausweg für ihn wäre, reich zu heiraten. Mademoiselle Clotilde de Grandlieu, die wenig anziehende Tochter einer Herzogin, wird als mögliche Kandidatin genannt, eine Heirat mit ihr würde Lucien zum Titel eines Marquis und einem Diplomatenposten, möglicherweise als Botschafter an einem kleinen deutschen Fürstenhof, verhelfen, doch dazu müsste er sich als Voraussetzung erst einmal selbst ein Vermögen verschaffen.