Das Chagrinleder

Die Frau ohne Herz


    Auf Émiles Mahnung hin, ohne lange Vorrede gleich zur Sache zu kommen, begann Raphael mit seinem Bericht, doch es war keine Kurzfassung, die er seinem Freund über sein bisheriges Leben gab, über seine Jugendzeit, in der er, nachdem er seine Mutter früh verloren hatte, unter der Knute seines strengen Vaters stand, der ihn mit siebzehn, als er das Collège beendet hatte, einer strengen Disziplin unterwarf, ihn in einem Zimmer neben dem seinen einlogierte, sein Studium der Rechte überwachte und ihn finanziell an der kurzen Leine hielt. Er war erfüllt von unterdrückten Wünschen, von Schwermut, in der er an Flucht dachte, und fand Trost in der Musik Mozarts oder Beethovens. Er gab sich sehn- süchtigen Phantasien von Reichtum, von Fahrten in einer eleganten Kalesche hin, mit einer schönen Frau an seiner Seite. Einmal stahl er, getrieben von dem Verlangen, die Laster seines Alters auszukosten, dem Vater Geld aus der Börse und verlor es im Spiel. Er hatte Glück, ein Fremder schenkte ihm die Summe, so dass er sie unbemerkt zurücklegen konnte. Der Vater spannte ihn in seine Bemü- hungen ein, mit denen er vor Gerichten – auch an preussischen und bayrischen, wie Balzac ausdrücklich schreibt – seine Ansprüche auf ein beträchtliches Erbe durchzusetzen suchte, mit geringem Erfolg; als er starb, erzielte der Sohn aus dem Erbe einen Erlös von jämmerlichen 1112 Francs, ausserdem gehörte ihm noch eine kleine Insel in der Loire, auf der sich das Grab seiner Mutter befand.
    – Doch ich war von einem übersteigerten Ehrgeiz besessen; ich glaubte mich zu grossen Dingen berufen und war zur Nichtigkeit verdammt.
    Die Erzählung von seinem weiteren Lebensweg nimmt die nächsten ca. 80 Seiten ein, sie handelt von seinem wendungsreichen, zunächst durch so prekäre Bedingungen geprägten Schicksal. Dabei drehte sich für ihn scheinbar alles um seine Beziehung zu den Frauen. Er sehnte sich heimlich nach der Liebe, aber linkisch und schüchtern wie ein Kind, wenn eine Frau ihm gefiel, fand er nicht die rechten Worte. Er beobachtete die jungen Leute, die sich mit nichtssagendem Geschwätz an Frauen heranmachten, die ihm selbst höchste Achtung einflöss- ten, und die damit angabenen, dass auch die tugendhaftesten Frauen verführ- bar seien (Choderlos de Laclos lässt grüssen!). Er suchte nach Gründen, wes- halb seine Bemühungen um die ersehnte Liebesbeziehung unerfüllt blieben, nach solchen, die bei ihm selbst, und nach solchen, die, wie er meinte, bei den Frauen lagen, die nicht imstande waren, seine Vorzüge, seinen aufrichtigen Charakter, zu erkennen. Da sie ihn verkannten, "nahm er sie mit dem scharfen Blick der verschmähten Liebe aufs Korn".
    Er entwarf ein eigenes Psychogramm von den Frauen, wie er sie sah: Wollten sie nicht ein bisschen Heuchelei, hielten sie nicht Naivität für Zynismus und die Lauterkeit der Gedanken für Frivolität? "Die überschwängliche Beweglichkeit der Phantasie, das Unglück der Dichter, liess ihn in ihren Augen als zur Liebe unfähig erscheinen". Seine Beobachtungen "lehrten ihn grausame Wahrheiten", Frauen würden an einem Mann von Talent nur seine Fehler, an einem Dummkopf seine guten Eigenschaften sehen; sie empfänden Sympathie für die Vorzüge eines Hohlkopfes, weil sie ihren eigenen Fehlern schmeichelten, während ein bedeu- tender Mann ihnen nicht die notwendige Befriedigung verschaffe, was wohl heissen soll, dass er "zu anstrengend" ist. "Das Talent ist ein Wechselfieber, und keine Frau hat Lust, nur dessen Misshelligkeiten zu teilen..."