Eine dieser erlesenen Schönheiten hielt den beiden Freunden mit einer hoch- mütigen Gebärde
eine Platte hin; Aquilina stand da, üppig, mit etwas männlichen Formen, ein Bild menschlicher Sinnesfreude.
Eine Gefährtin, eine kindliche Najade von sechzehn Jahren, trat hinzu und schenkte ihnen Kaffee ein. Sie
liessen sich zunächst von ihren lieblichen Zügen täuschen, erkannten dann
in ihr die Pariserin, die dahinter eine Verderbtheit verbarg. Euphrasie erschien als Kontrast zu dem anderen
imposanten, wohlgebauten Mädchen, das jungen Männern eher Furcht einflössen konnte. Émile
verglich sie mit einer Arabeske, für die die Liebe etwas Wildes hat, ein Ungeheuer, das wie ein Teufel lachen
und wie ein Engel weinen kann, das plötzlich losbricht, seine Leidenschaft zerbricht und den Geliebten und
schliesslich sich selbst vernichtet.
Die schreckliche Aquilina beschwor eine düstere Zukunft, das Schwinden der weiblichen Reize, den
körperlichen Verfall; Euphrasie dagegen zog es vor, die Jugend auszukosten, wollte lieber am Vergnügen
sterben als an einer Krankheit. Nachdem sie wegen eine Erbschaft verlassen worden war, wollte sie auf kein
Lächeln, auf keine Versprechungen mehr hereinfallen.
Raphael: Aber kommt das Glück nicht aus der Seele?
Aquilina: Nun, sich bewundert, umschmeichelt zu sehen, über alle Frauen, auch die tugendhaftesten,
zu triumphieren; sie mit unserer Schönheit und unserem Reichtum in den Schatten zu stellen...
Émile zu Raphael: Ist eine Frau ohne Tugend nicht verabscheuenswürdig?
Aquilina: Sie hat nie geliebt... Für sie war die Liebe ein hübscher Oberst.
Raphael: Wie glücklich sind Frauen, dass sie sich so ihrer Vernunft entäussern können!
Zu diesem Zeitpunkt glich der Salon Miltons Pandämonium; frenetische Tänze, Gelächter und
Geschrei, auf dem Boden liegende Körper wie Leichen auf einem Schlachtfeld, Gruppen eng umschlungener
Gestalten, wie eins geworden mit den weissen Marmorleibern der Statuen.
Unvermittelt brach Raphael in ein unangebrachtes Gelächter aus, worauf er dem Freund vermitteln
musste, wie absonderlich ihm der Verlauf der gemeinsam verbrachten Stunden vorkam; nach einem Tag, der damit begann,
dass er sich in die Seine stürzen wollte, nun dieser Augenblick, in dem alles auf diese beiden Frauen, die
leibhaftigen Urbilder der Torheit, hinauslief! Es wäre vielleicht Stoff für eine philosophische Abhandlung.
Dabei hatte er beide Füsse auf der hinreissen- den Aquilina; unterdessen vergnügte sich Émile
damit, Euphrasies Haare zusam- men- und auseinanderzurollen. Er brachte es auf den Nenner, dass das einfache mechanische
Leben dadurch, dass es unsere Intelligenz ersticke, zu irgendeiner unsinnigen Weisheit führe, während
Abstraktionen wie moralische Prinzipien in eine närrische Weisheit mündeten. Darauf entgegnete Raphael, indem
er es knapp so formulierte: der Gebrauch des Verstandes verdirbt den Menschen, die Unwissenheit läutert ihn.
Émile wollte von Raphael wissen, welche Erfahrung er denn machen wollte, als er in die Seine springen
wollte; ob er neidisch auf die hydraulische Maschine des Pont-Notre-Dame gewesen sei, oder war es vielleicht aus
Langeweile? er erwarte keinen Roman, sondern eine Kurzfassung, für die er bei seiner Schläf- rigkeit noch
aufnahmefähig sei. Raphael entgegnete mit der Idee einer Natur- geschichte der Herzen, nach der diese in Arten,
Familien, Fossilien, Saurier usw. eingeteilt werden könnten, dann liesse sich beweisen dass es Herzen gibt,
zart und empfindlich wie Blumen, und steinerne, unempfindsame Herzen. Émile bat ihn, ihn mit seiner Vorrede
zu verschonen.