Das Chagrinleder


    Es folgen seitenlange Beschreibungen seiner Ekstasen, von Phantasien, die Gestalten, finstere und liebliche, ferne und nahe, vor ihm erstehen liessen, ägyp- tische Mumien, Moses, wollüstige Mythen Griechenlands, eine etruskische Vase mit einem vor dem Gott Priapus tanzenden Mädchen... Schliesslich erschien ihm das christliche Rom, ein Gemälde mit der Jungfrau Maria in himmlischen Gefil- den; dann wiederum die Orgien der Borgia, die Leidenschaft italienischer Frauen; auf Indien und seine Religionen, ein chinesisches Ungeheuer, die Werkstätten der Renaissance, Konzile mit den Kurtisanen im Gefolge, folgten die Massaker Pizarros, grausame Religionskriege sowie heitere Bilder der Ritterzeit: ein Meer von Hausrat, Erfindungen, Moden und Kunstwerken, ein endloses Poem in Formen, Farben, Gedanken, die aber kein Ganzes ergaben.
    Nachdem er Länder, Zeitalter, Herrscherepochen an sich hatte vorüberziehen lassen, wandte er sich nun Schicksalen einzelner Menschen zu: einem Kind aus Wachs, das Erinnerungen an seine eigene Kindheit in ihm hervorrief, einem jungen Mädchen aus Tahiti. Dann wurde er zu einem Korsar. wünschte sich das Leben eines Mönchs, eines Soldaten oder eines Handwerksmannes. Von den biertrinkenden Flamen und den drallen Bäuerinnen ging es zu den Tomahawk schwingenden Cherokee in Illinois, einem Burgfräulein am gotischen Kamin.
    Im nächsten Stockwerk, zu dem er in Begleitung eines jungen Bediensteten hinaufstieg, folgten weitere ausgedehnte Räume, mit gold- und silberfunkelnden Schätzen, Liebhaberstücke von Verschwendern. Hier zeigte sich der menschliche Geist in seiner Jämmerlichkeit und in seiner gigantischen Beschränktheit. Hier lagerten Millionen, nein Milliarden! Sie gelangten in eine Galerie im dritten Stock, und hier präsentierten sich den ermüdeten Augen des Unbekannten in gedräng- ter Folge Meisterwerke von Michelangelo, Rembrandt, Murillo, Velasques, Kunstwerke in solcher Unzahl, dass sie einen Widerwillen gegen die Kunst einflössen mussten... Er verfiel in eine Niedergeschlagenheit, Gestalten umwir- belten ihn in fieberartigen Bildern, hüpften, schwerfällig oder leichtfüssig, anmutig oder ungestüm; es war ein Sabbat, "würdig der phantastischen Erscheinungen, die Faust auf dem Brocken sah."
    Allmählich versank die Umgebung in ein Dunkel, und er wurde von einer Erschöpfung übermannt. Plötzlich glaubte er gerufen zu werden, ein Licht blen- dete ihn, und er blickte in die blitzenden Augen eines Greises. Es war ein kleiner hagerer, dürrer Alter in einem schwarzen Samtrock und mit einem schwarzen Samtkäppchen, unter dem weisse Haarsträhnen herabhingen. Die Gesichtszüge liessen auf ein tiefes Wissen um die Dinge des Lebens schliessen; er schien die Gabe zu besitzen, die verborgensten Gedanken der Menschen zu lesen. Der Alte stand unerschütterlich, unbeweglich da; seine Augen, voll einer sanften Bosheit, schienen die geistige Welt zu erhellen wie eine Lampe. Doch in der Umnebelung seiner Sinne wie in einem Opiumrausch glaubte der junge Mann eine Vision zu haben, und das "in Paris, am Quai Voltaire, im 19.Jahrhundert."
    Erst eine Art Erweckungserlebnis beim Anblick eines Jesusbildes von Raffael, in dem er die Heiterkeit, das Leben in dem göttlichen, von einem Strahlenkranz umgebenen Antlitz mit den tiefroten Lippen erkannte, liess ihn in die wirkliche Welt zurückkehren und wieder einen Menschen werden, so dass er in dem Alten nicht mehr ein Trugbild, sondern den Menschen aus Fleisch und Blut sah. Sie näherten sich nun dem Kernstück der Sammlung, einem Talisman in der Form eines Stückes Chagrin, das an der Wand hing, nicht grösser als eine Fuchshaut; mit ihm, so erklärte der Alte, indem er den jungen Mann darauf hinwies, könne er ihn reich, mächtig und angesehen machen.