Das Chagrinleder


    Auf das Chagrin war in arabischer Schrift (im Original?) ein Text eingekerbt; die mysteriösen Worte lauteten:

Wenn du mich besitzest, wirst du alles besitzen.
Aber dein Leben wird mir gehören.
Gott hat es so gewollt.
Wünsche, und deine Wünsche werden erfüllt werden
Aber richte deine Wünsche nach deinem Leben.
Es ist in mir.
Bei jedem Wunsch werde ich abnehmen wie deine Tage.
Willst du mich? Nimm.
Gott wird dich erhören.
Sei es!

    Diese geheimnisvolle Schrift weckte die Neugier des jungen Unbekannten, er dachte nun offenbar nicht mehr ans Sterben. Auf seine zweifelnde Nachfrage, ob es ein Scherz sei, antwortete der Alte, das könne er ihm nicht sagen, er habe es nie ausprobiert. Seine Maxime lautete, jedes Übermass zu vermeiden:
    – Ich habe mein Leben nicht in das Herz, nicht in die Sinne, die abstumpfen, sondern in das Gehirn verlegt... So habe ich mich über die Welt erhoben, und meine Genüsse sind geistiger Art gewesen.
    Er legte dem Jüngeren wortreich seine Einsichten über Wollen, Können und Wissen dar:
    – Kommt das Wort Weisheit nicht von Wissen? Und was ist die Torheit, wenn nicht das Übermass eines Wollens oder Könnens?
    Doch der junge Unbekannte schlug die Ermahnungen des Alten in den Wind, er entschied sich für ein Leben im Übermass und ergriff das Chagrinleder.
    – Ich will ein glanzvolles, königliches Mahl, ein Bacchanal... Meine Gäste sollen jung sein, geistreich und ohne Vorurteile, ausgelassen bis zur Tollheit!
    Er ging hinaus. Er merkte wie geblendet nicht, wie biegsam das Chagrinleder plötzlich war, so dass er es zusammenrollen und fast mechanisch in die Tasche stecken konnte. Blindlings rannte er gegen drei junge Leute, die in ihm ihren alten Freund Raphael wiedererkannten und ihn, da sie auf dem Weg zu einem Festmahl in einem der vornehmen Häuser waren, gleich mitnahmen.
    – Wir fragten uns, ob du in den Bäumen der Champs-Élysées dein Nest auf- geschlagen hast, oder ... dich in jenen menschenfreundlichen Häusern einlogiert hast, wo die Bettler auf ausgespannten Gurten schlafen, oder ob du, im glück- lichen Fall, dein Lager vielleicht in irgendeinem Boudoir aufgeschlagen hast.

    Émile, der Journalist, fuhr fort, über die politischen Ereignisse (die Juli-Revo- lution von 1830 – hier liegt offenbar ein Zeitsprung vor) zu schwadronieren:
    – Das Taschenspielerkunststück, den Konstitutionalismus unter dem royali- stischen Hute verschwinden zu lassen, wird heute ernster betrieben denn je...
    – Die vom Heldenmut des Volkes gestürzte Monarchie war eine Frau von schlechtem Lebenswandel...
    – Die Regierung, das heisst die Aristokratie der Bankiers und Advokaten, die heutzutage mit dem Vaterlande machen, was ehemals die Priester mit der Monarchie machten...
    – Kurzum, eine Zeitung, um eine Opposition zu bilden... und da wir uns aus der Freiheit ebenso wenig machen wie aus der Despotie, aus der Religion so wenig wie aus dem Unglauben,... so haben wir, die wahren Anhänger des Gottes Mephistopheles, es unternommen, den öffentlichen Geist zurechtzuschminken...