Drittes Kapitel JULES AN HENRY
"Seit du mich verlassen hast, lieber Henry, scheint es mir, dass mit dir alles gegangen ist, deine Abwesenheit
hat in mir eine schreckliche Leere hinterlassen. Ich beneide dich ebenso wie ich dich bedauere. Wie gern wäre
ich mit dir in Paris zusammen! Wie schön und aufregend das Leben dort sein muss! Antworte mir schnell und
berichte mir Einzelheiten über alles, was du machst, über deine neuen Bekanntschaften, über
die Gesellschaften, die du besuchst, usw. Hast du Morel getroffen? hat er dich zu Schauspielerinnen mitgenommen?
triffst du dich mit Künstlern? gehst du oft zu Theateraufführungen? berichte mir ein wenig, was du in
der Oper erlebt hast usw. Ich brenne darauf, einen Brief von dir zu erhalten.
Wie gut du doch dran bist! Dein Vater tat gut daran, dich nach Paris gehen zu lassen; du bist frei, hast Geld
und Geliebte, du hast Kontakte, ich dagegen!... Ich werde dir berichten, was sich hier seit deiner Abreise
ereignet hat.
Du weisst, dass es der Wunsch meiner Mutter war, dass ich Notar werde; ich wollte ebenfalls Jura studieren
und mich dir in Paris anschliessen, aber mein Vater war nicht damit einverstanden, er sagte, dass ich nicht die
Mittel aufbringen könnte, um das Studium zu bezahlen, und dass die Rechtsanwälte im übrigen alle
Gauner seien wie Robert Macaire, dass er häufig Prozesse geführt habe und sie ihn immer bestohlen
hätten, kurz und gut dass es sich um einen Beruf für Dummköpfe handele und er niemals seine
Zustimmung dazu geben werde, dass sein Sohn ihn ergreift.
Seine fixe Idee ist die, mich hier bei sich zu behalten und mich bei irgendeiner Behörde anfangen zu lassen;
er sagt, dies ist eine nette Karriere und mit Beharrlichkeit und Fleiss kann man hier seinen Weg machen. Ich weiss
noch nicht, ob es bei der Behörde für Steuern oder die der Finanzen sein wird; er ist heute sehr früh
am Morgen aufgebrochen und sagte mir, dass er etwas für mich in die Wege leiten wolle. Wenn er doch jedesmal mit
seinem Anliegen abgewiesen und mit seinem absurden Vorhaben beim ersten Anlauf scheitern würde!
Verstehst du das, Henry, verstehst du es? ich in einem Büro! ich ein Commis! einer, der Zahlenkolonnen
schreibt, Akten kopiert, mit Registern oder mit Büchern hantiert, wie sie das nennen, diese Bücher in
grünen Einbänden, mit gelblichen Streifen und mit kupfernen Ecken versehen! von morgens bis abends
anwesend sein, Seite an Seite mit Bürojungen, Gehilfen für einhundert Francs im Monat! jeden Tag um
9 Uhr morgens kommen und nachmittags um 4 Uhr gehen, und am nächsten Morgen wieder und auch am
übernächsten, und das ein ganzes Leben lang, oder vielmehr bis ich daran sterbe, denn ich werde aus
Wut und vor Erniedrigung daran sterben! Zudem werde ich da einen Meister, einen Vorge- setzten, einen Chef haben,
dem ich gehorchen muss, dem ich Dinge erledigen muss, die Ausfertigung, der in seinem Sessel
dasitzen und alles prüfen wird, ausgelassene Kommata, unsaubere Linien, vergessene Wörter, der mich
wegen meiner schlechten Handschrift abkanzeln und wie einen Diener herumstossen wird...! Geduld, Geduld! Ich bin
fest entschlossen, mich nicht von ihnen herum- kommandieren zu lassen und sie so davon abzuhalten, sich weiter
mit mir anzulegen. Ich will es darauf anlegen, gleich in der ersten Woche nach Hause geschickt zu werden, das
habe ich mir fest vorgenommen, und danach werden wir sehen. Man wird hoffentlich keinen Schuster aus mir machen
wollen, oder einen Ladenjungen, das wäre das letzte!