Die erste Éducation Sentimentale


    Denn wenn M.Renaud nur wenige aufnahm, so waren es ausgewählte Schüler; es waren nie mehr als fünf oder sechs, denen er seine ganze Zeit und sein ganzes Können widmete. Die jungen Leute wurden hier für die École Polytechnique, die École normale sowie für die Reifeprüfungen verschiedenster Art vorbereitet; er nahm auch Medizin- und Jurastudenten auf, wobei er sich bei diesen letzteren darauf beschränkte, sie dazu anzuhalten, keine Zeit zu verlieren, das war alles, was er ihnen beibrachte. Alles in allem mochten ihn alle, nicht weil er den glühenden Verstand gehabt hätte, der auf die Jugend verführerisch wirkt und durch den sie sich von Älteren angezogen fühlt; denn er war ein umgäng- licher Mann, der ihnen das Leben angenehm und ruhig machte, recht freundlich war, zu Spässen aufgelegt war und zu Witzeleien neigte.

    Dem ersten Eindruck nach schien er boshaft zu sein, dem zweiten nach eher beschränkt, er grinste häufig ironisch bei den nebensächlichsten Dingen, und wenn man ernsthaft mit ihm redete, sah er einen mit so intensiven, tiefgündigen Blick hinter den goldgefassten Brillengläsern an, dass man ihn für geistvoll halten konnte; sein Kopf, vorn kahl und nur im Nacken mit blonden gekräuselten Haaren bedeckt, die er recht lang wachsen liess und sorgfältig über die Schläfen legte, war nicht unintelligent und dabei gutmütig; alle vorspringenden Linien seines kleinen, gedrungenen Körpers verloren sich in dem schlaffen, fahlen Fleisch; er war dickbäuchig und hatte weiche, rundliche Hände wie die einer ältlichen, fünfzigjährigen Frau, seine Kniee waren x-förmig gebogen, und auf den Strassen beschmutzte er sich fürchterlich.
    Wenn es die Strassburger Filzpantoffeln zu der Zeit noch nicht gegeben hätte, hätte er sie erfunden; er trug sie ununterbrochen, sommers wie winters, zur grossen Verzweiflung seiner Frau, und er jammerte eine Stunde lang, wenn er in Stiefeln ausser Haus gehen musste. Seine Frau hatte ihm eine griechische Kappe gestickt, mit blauen Blumen auf einem braunen samtenen Grund, die er, ganz Chef, in seinem Arbeitszimmer trug, in dem er den ganzen Tag mit Arbeiten und Unterrichten verbrachte; er war immer in einen Mantel aus einem grünen Schottenstoff mit schwarzen Streifen gehüllt; er war ein erklärter Feind von Rock und Beinkleid.

    Wenn die jungen Leute aus ihren Zimmern kamen, liessen sie ihre Kappen im Vorzimmer, in dem sich zwei Strohmatten und sechs Stühle befanden, dann begaben sie sich zu ihrem Lehrmeister, nahmen je nach Belieben einen Platz auf einem Stuhl oder in einem Sessel ein, dösten oder hörten zu oder aber betrachteten die zeitlosen Büsten von Voltaire und Rousseau, die die beiden Ecken des Kamins zierten; sie blätterten in der Bibliothek in Büchern oder zeichneten auf Kartons Köpfe von Türken oder Frauenfrisuren. Die Regeln des Hauses waren hausväterlich und locker: an den Sonntagen trank man nach dem Essen Kaffee, und abends spielte man im Salon von Mme Renaud Karten; hin und wieder ging man gemeinsam ins Theater, oder man unternahm im Sommer Ausflüge aufs Land, nach Meudon oder nach St.Cloud.