Die erste Éducation Sentimentale


    O mein armer Henry! war es das, wovon wir gemeinsam geträumt haben? Erinnerst du dich, was für ein grossartiges Leben wir uns damals ausgemalt haben, und wie wir uns bei Spaziergängen darüber ausgetauscht haben? Wir würden im selben Haus leben; an den Vormittagen würden wir bis mittag arbei- ten, jeder an unserem Tisch; dann würden wir uns vorlesen, was wir geschrieben haben. Dann würden wir ausgehen, wir würden Bibliotheken und Museen auf- suchen, am Abend ins Theater gehen; zurück in unserem Haus würden wir, bevor wir uns schlafen legen, noch das am Tage gesehene analysieren und unsere Arbeit des nächsten Tages vorbereiten.

    Wie glücklich wir gewesen wären, so gemeinsam zu leben und zu arbeiten, wir hätten uns mit Kunst, mit Geschichte und mit Literatur beschäftigt! Mit ein paar guten Beziehungen, einigen recht starken in die Zeitungen gesetzten Artikeln wäre es uns bald gelungen, uns einen Namen zu machen. Mein erstes Stück hättest du dem Komitee vorgelesen, da du besser liest als ich, und ausserdem hätte ich zu sehr gezittert. Und die erste Aufführung, mon Dieu! an die erste Aufführung, hast du manchmal daran gedacht? Das Theater ist voller Leute, die Frauen sind herausgeputzt mit Buketts, während wir uns in den Kulisssen aufhalten, wir gehen, kommen, reden mit unseren Schauspielerinnen in den Kostümen unserer Rollen; man zieht die Decors hoch, hebt die Rampe an, die Orchestermusiker nehmen ihre Plätze ein, der Gong ertönt dreimal, und das Geraune im Saal beruhigt sich. Der Vorhang hebt sich, alles lauscht, das Stück beginnt, die Szenen wechseln, das Drama nimmt seinen Lauf, die Bravorufe ebben ab, und dann wird es ganz still, man könnte eine Fliege summen hören, jedes Wort fällt Tropfen für Tropfen und wird mit einer stummen Erwartung aufgenommen. Von allen Plätzen erschallt es bravo! bravo! der Autor! der Autor!

    Ach! Henry, wie ist dieses Leben als Künstler doch schön, dieses leiden- schaftliche, ideale Leben, in dem die Liebe und die Poesie sich verbinden, sich steigern und sich gegenseitig beleben, in dem man den ganzen Tag mit Musik, mit Statuen, Gemälden, Versen lebt, um am Abend in die strahlende Helligkeit der Leuchter einzutauchen, auf den schwankenden Brettern des Theaters, inmitten all dieser poetischen, vor Illusionen strahlenden Leute, wo man Schau- spielerinnen als Geliebte hat, sich vornimmt, seine Vorstellung auf der Bühne zu leben, berauscht von dem Enthusiasmus, der bis zu dir dringt, und gleichzeitig den Genuss des Stolzes, der Begierde und des Genies auszukosten!

    P.S. – Mein Vater ist eben zurück, er hat mich in sein Zimmer bestellt; es ist aus, ich werde Zollbeamter. In acht Tagen fange ich als Beamtenanwärter an, heute abend muss ich dem Direktor einen Besuch abstatten, um ihm zu danken... Ich werde mich zusammennehmen müssen. Ich bin am Ende, ich bin beklagenswert. Lebewohl!
     Dein Freund bis in den Tod.    JULES

    Ich werde dir später die Liste der Werke schicken, die du mir bitte in den Ferien mitbringen möchtest. Kommt nicht bald die Zeit der Maskenbälle? Teile mir mit, in was für einem Kostüm du gehst. Der Einnehmer M.A., der geheiratet hat, gibt am 25sten ein grosses Fest, er möchte, dass alles genauso ist wie in Paris. Ich werde hingehen.