Asie setzt unterdessen ein weiteres Mal ihre Verwandlungskünste ein und macht sich als eine wie eine
Baronin aus dem Faubourg Saint-Germain heraus- geputzte Dame auf den Weg zum Untersuchungsgefängnis. Mit einer
Vorladung verschafft sie sich Zutritt zur Wandelhalle des Justizpalastes und lässt sich in den Gängen
und über die Treppen herumführen. Collin präpariert, als er in seiner Zelle allein ist, dünne
Papierstreifen, schreibt darauf Botschaften und formt sie zu einem Kügelchen, um sie seiner Helferin Asie
zuzuspielen. Tatsächlich ergibt sich für sie die Gelegenheit, ganz in der Nähe zu sein, als er
vorgeführt wird, und sie kann unbemerkt das Papierkügelchen, das er unauffällig fallen lassen hat,
vom Boden aufheben.
Nachdem sie die Papierstreifen sorgfältig voneinander gelöst, geglättet und die winzige
Schrift entziffert hat, macht Asie sich daran, die Anweisung Herreras auszuführen. Es muss unbedingt verhindert
werden, dass Lucien vor ihm vom Untersuchungsrichter Camusot verhört wird, und um das zu erreichen, soll sie
sich an die Gönnerinnen Luciens wenden, nur sie können ihn retten. In ihrer be- währten Verkleidung
als die Trödlerin Saint-Estève sucht sie daher die Herzogin de Maufrigneuse und ihre Freundin Madame de
Sérizy auf. Mit respektloser Offenheit redet sie auf die von echtem Schmerz gezeichnete Diane de
Sérizy ein, die, seit sie zuerst von der Verbindung Luciens mit der Dirne Esther und dann von seiner
Verhaftung erfahren hat, Qualen erleidet und sich in Selbstmitleid ergeht. Asie gibt ihr sogar die Schuld an
Luciens Unglück, für sie wäre es ein Leichtes gewesen, ihm die Millionen zur Verfügung zu
stellen; erst ihre Weige- rung habe ihn in die missliche Lage gebracht, in der er sich jetzt befindet. Dieser
unverblümte Ausbruch Asies tut seine Wirkung: die liebende Vierzigjährige streicht sich mit der Hand
über die Stirn und ist wieder jung. Leontine, die Herzogin, weiss, was zu tun ist: Camusot muss daran
gehindert werden, Lucien zu verhören, und dazu müssen ein paar Zeilen an ihn gerichtet und zum
Justizpalast gebracht werden. – Es ist genau das, was Herrera erreichen wollte.
Als Collin dem Untersuchungsrichter Camusot zu einem ersten Verhör zur Feststellung seiner
Identität vorgeführt wird, gibt er weiter den durch Krankheit so sehr Geschwächten, dass er von zwei
Gendarmen gestützt und in die Kanzlei getragen werden muss, und beharrt darauf, der spanische Geistliche Carlos
Herrera, Domherr in Toledo und Abgesandter des spanischen Königs zu sein, was Seine Exzellenz der spanische
Botschafter bestätigen könne. Unterdesssen war auch Lucien in eine Zelle, vergleichbar mit der Collins,
gebracht worden. Wie mit ihm verfahren werden soll, darüber tauschen sich der Untersuchungsrichter und der
Generalstaatsanwalt Graf von Granville bei einer scheinbar zufälligen Begegnung aus, wobei Camusot den Eindruck
gewinnt, dass Lucien wegen seiner Beziehungen zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen gerettet werden soll.
Ein Weg wäre, den gewohnheitsmässigen Verbrecher Collin als den Allein-Schuldigen zu verurteilen.
Camusot lässt, um nachzuweisen, dass Herrera tatsächlich der entflohene Bagno-Sträfling
Jacques Collin ist, ehemalige Mithäftlinge auftreiben und her- bringen, die ihn identifizieren sollen, doch es
stellt sich wegen seines veränderten Aussehens als sehr schwierig heraus, nur an seiner Stimme glauben die
Zeugen ihn wiederzuerkennen. Er wird mit früheren Mitbewohnern der Pension der Madame Vauquer konfrontiert, in
der er als Vautrin, u.a. mit dem noch jungen Rastignac, gewohnt hatte (s."Vater Goriot"), bis er
als entflohener Bagno-Sträfling Jacques Collin wiedererkannt und verhaftet worden war, doch er bleibt unbeirrt
dabei, nicht dieser Collin zu sein; allerdings habe er Monsieur de Rastignac bei Lucien getroffen. Sein
Oberkörper wird inspiziert, doch er ist so sehr mit Narben übersät, dass er auch nicht anhand der
Brandzeichen, mit denen die Bagno-Häftlinge auf dem Rücken gebrandmarkt werden, eindeutig identifiziert
werden kann.