Glanz und Elend der Kurtisanen

    Léontine de Sérizy wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass Lucien sich zwar keines Giftmordes oder Diebstahls, dafür aber eines viel schwereren Vergehens schuldig gemacht hat, nämlich der Freund und Schüler eines entsprungenen Bagnosträflings zu sein. Daher werde er vor einem Schwurgericht als ein erheblich kompromittierter Zeuge aussagen müssen. Es ist für sie wie ein Stoss mit einer Eisenstange; "niemals!" ruft sie laut und zu allem entschlossen. Der Generalstaatsanwalt verweist auf die Protokolle der beiden Verhöre, aus denen alles hervorgehe, und nachdem er betont lächelnd auf "die Grösse unserer neuen Einrichtung", die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit hingewiesen hat, verlässt er nicht ohne Berechnung den Raum, um nicht Zeuge dessen zu werden, was sich zwischen Camusot und Madame de Sérizy weiter abspielt.
    Als sie allein sind, fragt Léontine Camusot sehr sanft nach den Protokollen. Wenn man sie einfach verschwinden liesse?... Der Richter betont, dass es für sie ein Glück sei, dass er mit der Untersuchung des Falles beauftragt sei, und zeigt ihr die bei Lucien beschlagnahmten Briefe. Als sei sie bei sich zu Hause, lässt Madame de Sérizy im Kamin Feuer machen, und nachdem sie sie geprüft hat, wirft sie einen Brief nach dem anderen hinein. Anschliessend versucht sie, Camusot die Verhörprotokolle zu entreissen, und es gibt einen Kampf. Mit katzenartiger Geschwindigkeit bekommt sie die Papiere zu fassen und wirft sie ins Feuer, woraufhin Camusot sie wieder herausreisst. Sie greift erneut nach den brennenden Papieren, die schon Brandmale auf ihrer Haut hinterlassen, als ein Mann in das Arbeitszimmer stürzt, es ist ihr Mann, der Staatsminister, gefolgt von den Staatsanwälten Granville und Bauvan. Camusot kündigt an, er werde gegen die Frau Gräfin Klage führen müssen. Was sie getan habe, fragt der General- staatsanwalt. "Ich habe die Verhöre verbrannt", erwidert die Frau lachend. "Monsieur Camusot hat einer unwiderstehlichen Frau tapfer widerstanden", stellt der Graf de Bauvan ebenfalls lachend fest. "Er ist sehr tüchtig, ich würde es nicht wagen, der Gräfin Widerstand zu leisten!" sagt der Generalstaatsanwalt Granville. So wird die ernste Angelegenheit zum harmlosen Scherz. einer hübschen Frau.
    Für einen ist es kein Scherz: den Gatten Léontines, den Grafen de Sérizy. Granville gibt Camusot Anweisungen, wie die Affäre, die für de Sérizy, seine Frau und ihre Freundin de Maufrigneuse unangenehme Folgen haben könnte, beendet werden kann: das Protokoll des Verhörs Collins wird neu geschrieben, und da er nicht identifiziert werden konnte, wird er freigelassen. Was Lucien angeht, er gleiche einer fleckigen Orange; sie dürfe nicht verderben. Für ihn soll ein Freispruch erwirkt, dann kann er freigelassen werden.

    Zu derselben Zeit, als schöne Frauen, Minister und Richter sich verschwören, um ihn zu retten, hat Lucien sich Papier, Tinte und Feder bringen lassen. Seit seiner Verhaftung war der Gedanke an den Selbstmord bei ihm zur fixen Idee geworden, und das mehrmalige Lesen von Esthers Brief hatte seine Todes- sehnsucht noch gesteigert. Er verfasst sein Testament, in dem er Monsieur de Sérizy bittet, das Amt des Testamentvollstreckers zu übernehmen. Dann folgt eine Aufzählung der Personen, denen er als Erbe der Esther Gobseck die von ihm genannten Beträge vermacht: seiner Schwester in Angoulême, dem Herrn Abbé Carlos Herrera, dem Baron de Nucingen sowie den Pariser Hospitälern zum Zweck der Gründung eines Heims für Freudenmädchen. Auf dem Ostfriedhof soll ein Grabdenkmal für Mademoiselle Esther nach antikem Vorbild errichtet werden: "Unsere beiden Gestalten aus weissem Marmor sollen auf der Grabplatte ruhen..."